Mitte August wartete die Schweiz jeden Mittag bang auf die neusten Corona-Zahlen. Etwas Furchteinflössendes war im Gang: Die Zahl der Neuansteckungen stieg und stieg. Und das mitten im Sommer.
Wie soll das erst werden, wenn es kälter wird? Diese Frage spukte vielen im Kopf herum. Würde die vierte Welle noch schlimmer werden als die zweite? Im vergangenen Herbst wurden täglich bis zu 10'500 Neuinfektionen gemeldet, die Spitäler riefen den Notstand aus.
Alle Indikatoren sinken
Sechs Wochen später das grosse Aufatmen. «Alle Indikatoren sind im Sinken begriffen», sagte Virginie Masserey vom Bundesamt für Gesundheit am Mittwoch. Die vierte Welle ist gebrochen, dürfte bald auslaufen. Auf ihrem Höchststand wurden am 6. September 4000 Neuansteckungen gemeldet.
Seitdem gehen die Fallzahlen beruhigend gleichmässig zurück. Das zeigt auch die 7-Tage-Inzidenz, die angibt, wie viele von 100'000 Menschen sich in einer Woche anstecken. Lag sie Anfang September noch bei 225, sind es jetzt noch 77.
Und das, obwohl die Testzahlen seit August deutlich gestiegen sind. Wir laufen nicht Gefahr, dass sich die Pandemie unter dem Radar verschlimmert. Im Gegenteil: Die Positivitätsrate, die angibt, wie viel Prozent der Tests positiv ausfallen, ist von 13,5 Mitte August auf 4,2 gefallen. Wir finden das Virus also.
Nur: Wie ist das Absinken der vierten Welle zu erklären?
Wetter, Impfung, Zertifikat
An den Impfungen liegt es kaum. In den letzten zwei Monaten ist die Impfquote gerade einmal um sieben Punkte auf nun 58 Prozent gestiegen. Wobei: Im Vergleich zur zweiten Welle im letzten Herbst, als es keine Impfung gab, ist das ein gewaltiger Unterschied.
Das sonnige und warme September-Wetter hat ebenfalls Anteil an den sinkenden Fallzahlen. Ausserdem war der starke Anstieg ab Anfang August auf die Ferien-Rückkehrer zurückzuführen.
Und letztlich kommt wohl das Covid-Zertifikat hinzu. Das deutsche Robert Koch-Institut jedenfalls sieht klare Hinweise darauf, dass die in Deutschland ebenfalls spürbare Pandemie-Entspannung auf die «Einführung der 2G- beziehungsweise 3G-Regeln in vielen Bereichen zurückzuführen ist».
Ungeimpfte lassen sich testen – oder schränken sich ein
Das Schweizer BAG ist noch zurückhaltend in der Deutung. Es sei «verfrüht zu beurteilen, welchen Einfluss die erweiterte Zertifikatspflicht» vor knapp drei Wochen habe, teilt es auf Anfrage mit.
Neben dem Wetter und dem Impffortschritt verweist das Amt aber ebenfalls auf das «veränderte Verhalten im Alltag». Und damit auch auf den Fakt, dass Umgeimpfte jetzt negative Tests brauchen, um ins Restaurant, Kino oder den Fitnessclub zu gehen. Ein Teil tut das – ein anderer jedoch schränkt seine Mobilität ein.
Intensivstationen können noch nicht aufatmen
Die positive Entwicklung zeigt sich auch in den Spitälern – die wichtigste Grösse für die Politik, wenn es darum geht, Massnahmen zu ergreifen oder zu lockern. In den letzten zwei Wochen ging die Zahl der Hospitalisierungen um 24 Prozent zurück, wie die Corona-Taskforce in ihrer neusten Lagebeurteilung schreibt. In den Berner Spitälern hat sich die Zahl der Covid-Patienten innert einer Woche gar fast halbiert.
Aber: Auf den Intensivstationen bleibt die Situation angespannt. «Wir spüren langsam eine gewisse Stabilisierung – nichtsdestotrotz sind wir nach wie vor zu 90 Prozent ausgelastet», sagt das Inselspital auf Nachfrage. Nicht dringliche Operationen müssten verschoben werden, das Personal sei so erschöpft, dass es durch Kollegen aus anderen Abteilungen ersetzt werden müsse.
Im Unispital sind noch zwei Betten frei
Entwarnung will auch das Kantonsspital Aarau nicht geben. «Dieses Wochenende haben die Hospitalisationszahl und die Zahl der Todesfälle gegenüber der Vorwoche zugenommen», sagt Christoph Fux, Leiter der Infektiologie. Bei deutlicher Beruhigung der Fallzahlen erwartet er mit zwei bis drei Wochen Verzögerung eine Erholung.
Am Zürcher Unispital waren in den letzten Tagen ebenfalls 62 der 64 Intensivbetten belegt. In 16 davon liegen «sehr schwer erkrankte Covid-Patienten». Immerhin: Geplante Operationen können derzeit durchgeführt werden.
Ein Lichtblick. Vielleicht aber nur ein kurzer. Zur Erinnerung: Die schwere zweite Welle vor einem Jahr begann am 1. Oktober. «Das Wetter war in den letzten Wochen sehr günstig», mahnt Masserey denn auch vor zu viel Hoffnung. «Das kann sich sehr schnell ändern.»