Tag 2 im Prozess gegen Pierin Vincenz (65) und seinen früheren Berater Beat Stocker (61) stand ganz im Zeichen von Stocker und dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft. Die beiden Hauptangeklagten müssen sich wegen gewerbsmässigem Betrug, Urkundenfälschung, unlauterem Wettbewerb und Veruntreuung vor Gericht verantworten. Es droht ihnen eine Strafe von sechs Jahren Gefängnis. Es gilt aber für alle Beteiligten die Unschuldsvermutung. Blick hat den Überblick über ein weiteres Kapitel im spannenden Wirtschaftskrimi.
Staatsanwalt Thomas Candrian geht von Anfang an hart ins Gericht mit Vincenz. Erst geht es um die Besuche in Stripclubs, die Vincenz mit der Raiffeisen-Kreditkarte beglichen hat. «Es gelüstete ihn persönlich, sich den dortigen Annehmlichkeiten hinzugeben. Die Auslagen zeigen eine Tour de Suisse durchs Rotlichtmillieu.»
Die Häufung der Besuche weise auf eine persönliche Neigung von Vincenz hin. Es sei ihm nicht um Geschäftliches gegangen, sondern um sein persönliches Gefühl. Er habe nicht bei einer Ausgabe aufzeigen können, dass diese geschäftlich gewesen sein soll.
Pierin Vincenz hört konzentriert zu und macht sich Notizen. Augenkontakt zum Staatsanwalt vermeidet er.
«Golfrunde in der Ostschweiz hätte gereicht»
Die diversen Luxus-Reisen zu Golfplätzen in aller Welt sieht der Staatsanwalt kritisch. Sie seien geschäftlich nicht nötig gewesen. «Eine Golfrunde irgendwo in der Ostschweiz hätte genügt», so Candrian.
Das alles sei nur möglich gewesen, weil bei der Raiffeisen niemand ausser die langjährige Privatsekretärin von Vincenz die Spesen bearbeiten durfte, sagt Candrian. Sie seien «wie ein Staatsgeheimnis gehütet» geworden. Auch Verwaltungsratspräsident Rüegg-Sturm sei in die Irre geführt worden.
Zerstörtes Zimmer im Luxushotel
Speziell erwähnt Candrian die berühmt-berüchtigte Hyatt-Nacht: Die Geliebte von Vincenz erwischte diesen in der Nacht vom 11. auf den 12. Juni 2014 mit einer anderen im Bett. Die Situation eskalierte. Das Zimmer wurde zerstört. Den Schaden beglich Vincenz über die Raiffeisen. An der Befragung gab er an, das sei ein Versehen gewesen, den Schaden hätte er privat bezahlen müssen. Die Sache sei noch hängig.
Candrian sieht in dieser Ausrede eine Masche von Vincenz. Ein solches Versehen habe es mehrmals gegeben. Dabei hätte Vincenz wissen müssen, dass die Hyatt-Rechnungen von der Bank bezahlt werden, weil das Usus gewesen sei. Zudem hätte er die Ausgabe mit dem Vermerk «Übernachtung» verschleiert. Die Staatsanwaltschaft geht darum davon aus, dass die Ausgaben mit Absicht der Raiffeisen berechnet wurden.
Im CEO-Lohn bereits abgegolten
Auch bei den vermeintlichen Geschäftsreisen nach New York oder Dubai kommt Vincenz schlecht weg. «Er hat versucht, den Familienferien einen geschäftlichen Anstrich zu geben», sagt der Staatsanwalt. In seiner Agenda habe es keine konkreten Geschäftstermine gegeben. «Stattdessen stand da etwa ‹Ferien mit Kids›.» Dass Vincenz in den Ferien auch einmal ans Geschäft denkt, das sei mit dem hohen CEO-Lohn bereits abgegolten.
Chefankläger Marc Jean-Richard-dit-Bressel nimmt dann die verdeckten Firmenbeteiligungen von Vincenz auseinander.
Stocker am Stock
Bereits am Vormittag hat Beat Stocker (61) seinen grossen Auftritt. Was für ein Unterschied zu Vincenz! Der ist am Dienstag gut gelaunt, im offenen Hemd und ohne Maske vor dem Richter erschienen. Hat für die Fotografen einen Halt vor dem Volkshaus eingelegt. Und dabei stets gelacht. Er schien die Aufmerksamkeit zu geniessen.
Am Mittwoch kommt der Mitangeklagte Stocker dunkel gekleidet, mit schwarzer Maske, seine Hände stecken in schwarzen Handschuhen. Er stützt sich auf einen Stock, hat mit dem linken Arm bei seiner Frau eingehängt und geht bedächtigen Schrittes aufs Volkshaus zu. Fragen von Journalisten beantwortet er keine.
Die Fragen von Richter Sebastian Aeppli (63) zu Striplokal-Besuchen und heimlichen Firmenbeteiligungen beantwortet er dann aber präzis und geduldig. Alle Vorwürfe weist er kategorisch zurück. Sämtliche Millieu-Besuche seien geschäftlich gerechtfertigt gewesen. Stocker zeigt sich in Sachen verdeckter Firmenbeteiligungen aber lernfähig. Er sagt: «Heute bin ich geläutert.» Hätte er gewusst, was auf ihn zukomme, hätte er den Verwaltungsrat rückblickend informiert. «Dann hätte ich viel weniger Ärger.»
«Ich konnte nur 1,5 Meter weit sehen»
Pierin Vincenz hört den Ausführungen seines früheren Beraters und Freundes eher gelangweilt zu. Immer wieder ist er am Handy oder am Laptop. Oder nippt an seiner Cola.
Derweil wird Stocker sehr persönlich. Gibt auf Fragen des Richters ausführlich Auskunft über seine Multiple-Sklerose-Erkrankung. «An Tagen wie diesen kann ich kaum mehr gehen», sagt er. Und erklärt seine umstrittenen Flugspesen nach Lugano folgendermassen: «Ich hatte eine Nervenstörung und konnte nur 1,5 Meter weit sehen. Mittlerweile ist die Sehstörung wieder weg.» Seine Frau habe ihn deshalb begleiten müssen. Und ihm beim Einrichten einer Präsentation helfen müssen.
Zum Ende seiner Ausführungen hält er mit fester Stimme fest: «Ich habe mich nie persönlich bereichert. Wenn ich die Anklage lese, wird mir schlecht. Das bin ich nicht. Ich bin unschuldig.»
Jetzt wird gezügelt
In der Nacht wird gezügelt! Das Gericht muss den grossen Theatersaal im Volkshaus räumen. Er wird für den Auftritt eines russischen Ballett-Ensembles gebraucht. Am Donnerstag wird deshalb im viel kleineren blauen Saal verhandelt. Ein Grossteil der akkreditierten Journalisten steht dann vor verschlossenen Türen. Zuschauer sind keine mehr zugelassen.