Keine Finanzprobleme nach der Pensionierung, ein sorgloses Leben im Alter: Es geht um viel, wenn die Schweiz am 22. September über die Reform der beruflichen Vorsorge (BVG) abstimmt.
Entsprechend heftig ist der Abstimmungskampf. Befürworter und Gegner werfen mit Zahlen um sich, von denen manche einander widersprechen – oder sich gar als falsch erweisen.
Der Bund ist auch keine Hilfe. Sozialministerin Elisabeth Baume-Schneider (60) meinte bei der Präsentation der Vorlage: Wer genau wissen wolle, was die Reform für einen selbst bedeute, müsse die eigene Pensionskasse fragen.
Und – Chaos pur – auch Umfragewerte sorgten diese Woche für Verwirrung: Die Erhebung von Tamedia kommt auf 33 Prozent Ja und 59 Prozent Nein. Bei der SRG sind es 49 Prozent Ja und 39 Prozent Nein.
Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) nutzt die mediale Aufmerksamkeit, um auf ein anderes Problem der zweiten Säule aufmerksam zu machen: die steigenden Kosten für die Verwaltung der Pensionskassengelder.
Offizielle Statistik unvollständig
In einer neuen Analyse, die Blick exklusiv vorliegt, kommt der SGB zum Schluss, dass die Finanzindustrie an den PK-Vermögen der Arbeitnehmenden in den vergangenen zehn Jahren 67,6 Milliarden Franken verdient hat.
Die Summe setzt sich wie folgt zusammen: Die Vermögensverwaltungskosten schlugen zwischen 2013 und 2022 mit 43,8 Milliarden Franken zu Buche. Der übrige Verwaltungsaufwand belief sich auf 9,3 Milliarden. Diese Kostenblöcke werden in der offiziellen PK-Statistik des Bundes ausgewiesen.
Dazu addierte der Gewerkschaftsbund Kosten, wie sie aus Berichten der Finanzmarktaufsicht (Finma) ersichtlich sind: 9,1 Milliarden durch «überhöhte Risikoprämien» für Invalidität und Tod, die zugunsten der Versicherungskonzerne gingen. Weitere 5,4 Milliarden stammen aus der sogenannten «Legal Quote», die es privaten Versicherern erlaubt, bis zu 10 Prozent der Erträge aus dem BVG-Geschäft abzuschöpfen.
«Dieses Geld fehlt am Ende»
Gabriela Medici, Sozialversicherungsexpertin des SGB, kommentiert die Analyse wie folgt: «Die Kosten für die Verwaltungs- und Vermögensverwaltungskosten der zweiten Säule haben in den vergangenen Jahren stetig zugenommen und erreichten 2022 mit 8,2 Milliarden Franken ein neues Rekordhoch.»
Das sei viel zu viel: «Dieses Geld fehlt am Ende, um den Versicherten eine angemessene Rente bezahlen zu können.»
Lukas Müller-Brunner, Direktor des Schweizerischen Pensionskassenverbandes (ASIP), zweifelt nicht an den vom SGB verwendeten Zahlen. Er findet es aber «nicht sinnvoll», diese Kosten als «plumpe Summe» darzustellen: «Für eine stichhaltige Analyse müssen die Kosten in Relation zum verwalteten Vermögen gemessen werden.»
Bei dieser Betrachtung koste die Verwaltung der Vorsorgevermögen weniger als 0,5 Prozent pro Jahr, was sowohl im internationalen Vergleich als auch mit Blick auf Alternativen als Privatanleger sehr wenig sei. Müller-Brunner rechnet vor: «0,5 Prozent entsprechen dem Preis einer Papiertragtasche bei einem Einkauf von rund 60 Franken.»
«Ausschlaggebend ist gute Rendite»
Im Übrigen weist Müller-Brunner darauf hin, dass nicht allein die Kosten relevant seien, sondern vor allem der Ertrag: «Ausschlaggebend ist, dass die Pensionskassen dank professioneller Anlage der Versichertengelder eine gute Rendite erwirtschaften.»
Alleine im Börsenjahr 2021 hätten die Erträge dieses «dritten Beitragszahlers» mehr ausgemacht, als die gesamte Verwaltung während zehn Jahren gekostet habe. Der oberste PK-Vertreter ist deshalb überzeugt: «Der Leistungsausweis der beruflichen Vorsorge stimmt.»
Die Gewerkschaften wollen diese Aussage nicht unterschreiben, zumindest nicht pauschal. Zwar streitet auch der SGB nicht ab, dass die Rendite mindestens so wichtig ist wie die Kosten. Medici weist jedoch darauf hin, dass höhere Kosten nicht automatisch zu höheren Renditen führen: «Bis jetzt wurde von unabhängiger Stelle kein entsprechender Zusammenhang gefunden.»
2019 konnte eine Studie der Oberaufsichtskommission Berufliche Vorsorge nicht feststellen, dass teure Kassen auch besser performen. Müller-Brunner begründet das damit, dass viele Analysen zu wenig in die Tiefe gingen: «Jede Kasse hat ihre eigene Risikofähigkeit, an der sie sich orientieren muss – pauschale Vergleiche greifen daher schlicht zu kurz.»
Gewerkschaften fordern Effizienz
Für SGB-Sozialversicherungsexpertin Medici ist trotzdem klar, dass Handlungsbedarf besteht. Sie stört sich vor allem daran, dass in der zweiten Säule immer mehr gewinnorientierte Akteure mitmischen. «Sammel- und Gemeinschaftseinrichtungen, die privaten Versicherungskonzernen gehören, reissen sich um das ursprünglich paritätisch verwaltete Vorsorgevermögen der Erwerbstätigen.»
Die zweite Säule sei zu einem Business geworden, bei dem die Versicherten immer mehr das Nachsehen hätten: «Die Renten sind real gesunken, während die Gewinne der Banken, Versicherungen und Makler gestiegen sind.»
Laut Medici sind die Vermögensverwaltungskosten in vielen paritätisch und professionell geführten Pensionskassen «nur halb so hoch» wie im Gesamtschnitt aller Pensionskassen. Ihre Schlussfolgerung: «Würden sich alle der Kosteneffizienz bei den Vermögensverwaltungskosten verpflichten und nicht den Interessen der Aktiengesellschaften hinter den BVG-Stiftungen, könnten jährlich rund 2 Milliarden Franken zugunsten der Versicherten eingespart werden.»
Sammeleinrichtungen wehren sich
Müller-Brunner vom ASIP will sich zu diesem Vorwurf nicht äussern. Sein Verband vertritt in erster Linie die traditionellen, paritätisch zusammengesetzten Betriebs-Pensionskassen.
Der Verband Inter-Pension jedoch, laut Eigenwerbung «die starke Stimme der unabhängigen Sammel- und Gemeinschaftseinrichtungen», wehrt sich gegen die Kritik. Geschäftsführer Nico Fiore: «Pensionskassen sind entgegen dem landläufigen Narrativ keine Riesenkonzerne, die Unmengen an Geldern verschlingen.»
Die Mehrheit der Schweizer Pensionskassen bestehe von der Rechtsform her aus unabhängigen Stiftungen, welche keinen Gewinn erzielten, sondern das Vermögen für den Stiftungszweck einsetzten – die Durchführung der beruflichen Vorsorge. Fiore: «Die Gelder der Versicherten werden durch schlanke Organisationsstrukturen möglichst effizient verwaltet.»
Wie im Abstimmungskampf über die BVG-Reform gilt auch hier: Geht es um die zweite Säule, werden Zahlen von allen Beteiligten unterschiedlich interpretiert.