Auf einen Blick
Billige Dutzendware, Marketingsperrfeuer, China-Päckli ohne Ende: Wer so über Temu denkt, muss in naher Zukunft wohl ein wenig umdenken. Denn die hierzulande ebenso umstrittene wie erfolgreiche chinesische Shoppingplattform will neben Fernostbilligartikeln bald auch vermehrt Produkte von europäischen Händlern, Marken und Herstellern anbieten.
Statt nur Spielsachen, Küchengeräte und T-Shirts über 8000 Kilometer Luftlinie von China nach Europa zu fliegen, würde Temu quasi zusätzlich zum europäischen Online-Nahversorger. Ein Temu-Unternehmenssprecher sagt, dass das Local-to-Local-Modell eingeführt werde, «um der steigenden Nachfrage lokaler Konsumenten und Konsumentinnen nach schnelleren Lieferoptionen und einer grösseren Auswahl an Produkten von lokalen Händlern gerecht zu werden».
Temu strebt in Europa langfristig 80 Prozent Lokalanteil an
Dazu nennt Temu eine erstaunliche Zielgrösse: «Wir gehen davon aus, dass der Anteil der Verkäufe von lokal ansässigen Unternehmen an lokale Verbraucher langfristig 80 Prozent des Umsatzes von Temu in Europa ausmachen wird, was eine deutliche Steigerung gegenüber dem aktuellen Umsatzanteil darstellt.»
In welchem Zeitraum dieser hohe Wert erreicht werden soll und wo der lokale Umsatzanteil heute liegt, bleibt dabei aber ungenannt. Und es fragt sich natürlich, ob die Onlineplattform Temu, die erst im Frühling 2023 in Europa startete, dabei ihre Positionierung als ultrabillige Anbieterin halten könnte. Beobachterinnen sehen Temus neuen lokalen Ansatz auch als Massnahme, die bisher schlechte Reputation bezüglich Nachhaltigkeit zu korrigieren.
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Ähnlich wie der US-Konzern Amazon, der hierzulande vor zwei Jahren eine Charmeoffensive startete, um auf seiner Onlineplattform mehr Schweizer Verkäufer anzubinden, nimmt auch Temu Schweizer Verkäufer ins Visier: «Wir sind gerade dabei, unsere Local-to-Local-Strategie in den Märkten der EU einzuführen, in denen es eine starke Nachfrage danach gibt», heisst es bei der China-Plattform. Und weiter: «Temu schätzt die Schweiz als einen wichtigen Markt. Wir sind offen dafür, Schweizer Händlern dasselbe anzubieten, sofern eine entsprechende Nachfrage besteht.»
«Offensive zum Jahreswechsel»
Offenbar ist die Schweiz bei Temu sogar schon viel zentraler auf dem Radar als zunächst vermutet. Olivier Gachnang jedenfalls, Gründer und Chef der Luzerner E-Commerce-Beratungsfirma Go 2 Flow, empfängt deutliche Signale, dass da etwas im Busch ist. Gachnang hat von drei Schweizer Firmen gehört, die angefragt worden seien, ihr Sortiment auf Temu zu stellen und über die eigene Logistik den Schweizer Markt zu beliefern: «Offensichtlich hat Temu zum Jahreswechsel eine Offensive gestartet, um Schweizer Verkäufer zu gewinnen.»
Sollen sich Schweizer Marken und Händler überhaupt mit Temu ins Bett legen? Gachnang hat dazu zwei Sichtweisen: «Echten Love-Brands und Marken mit Alleinstellungsmerkmalen würde ich im Moment davon abraten. Aber wer kein Differenzierungsmerkmal hat und nur über den Preis verkauft, der muss das wohl tun. Denn wenn man es nicht tut, dann tut es ein anderer.»
Den Ansatz eines vorsichtigen Pragmatismus vertritt auch Andy Baldauf. Der Retail- und Digitalexperte sagt: «Wer als Marke, Hersteller oder Händler Umsatz machen und sich entwickeln will, sollte sich das sicher genauer anschauen.» Dabei dürfe man sich aber nicht nur vom Skalierungspotenzial blenden lassen, sondern müsse Vorabklärungen treffen. Drei Dinge solle man besonders genau prüfen, sagt der vormalige Migros-Manager Baldauf: «Erstens: Wenn man heute auf einer anderen Onlineplattform bereits ein Topseller ist – was würde ein Einstieg bei Temu für die eigene Reputation bedeuten? Zweitens: Wie funktionieren Kontakte, Prozesse und Logistik bei Temu – und passt das zu mir? Und drittens: Wer hat die Preishoheit?»
Temu redet mit beim Thema Preis
Tatsächlich ist gerade die Frage der preislichen Hoheit eine spezielle Thematik. Während es europäische Verkäufer in aller Regel gewohnt seien, ihre Preise auf E-Plattformen und Onlinemarktplätzen selber bestimmen zu können, laufe das bei Temu anders, wie ein Unternehmenssprecher erklärt: «Über den Endpreis wird nach Konsultation zwischen Temu und dem Händler entschieden. Temu gibt Preisempfehlungen auf der Grundlage von Markttrends und Wettbewerbsanalysen, die Händler bei der Führung ihrer Geschäfte berücksichtigen können.»
Auch wenn daraus nicht ganz klar wird, wer denn nun die finale Entscheidung hat, wäre ein solches Vorgehen für Schweizer Hersteller, Marken und Händler wohl gewöhnungsbedürftig. Und doch: Wer skalieren wolle, solle sich das anschauen, findet Andy Baldauf. So sieht es auch ein Schweizer Player, der gemäss eigenen Aussagen bereits mit Temu in Gesprächen ist: «Lieber mit dem Feind im Bett als den Feind unter dem Bett.»