Die Schweiz erlebt einen Bio-Boom. Schon fast ein Zehntel aller Lebensmittel sind biologisch hergestellt, Tendenz steigend. Grund genug für den abtretenden Migros-Chef Herbert Bolliger (64), Alarm zu schlagen: «Wenn alle Menschen Bio wollen, hat ein grosser Teil der Bevölkerung nichts mehr zu essen», sagte er in seinem letzten grossen Interview am Montag zu BLICK. «Wir hätten gravierende Verteilungskämpfe.»
Darum spricht sich Bolliger für integrierte Produktion aus, kurz IP. Damit sind weniger strenge Regeln verbunden als mit Bio, dafür ist sie effizienter. Bolliger spricht von der «Balance zwischen Effizienz und Ökologie.»
Gestern hatte sich Bauernverbands-Präsident Markus Ritter (50) irritiert gezeigt. Und Daniel Bärtschi (50), Geschäftsführer des Branchenverbands Bio Suisse, sagte: «Bolliger macht sein eigenes Sortiment schlecht.» Unter seiner Ägide wuchs der Bio-Umsatz der Migros auf das Dreifache an.
Jetzt wird der Bald-Rentner an seinen letzten Arbeitstagen von Coop, seinem liebsten Feind, unter Beschuss genommen: Coop-Pressesprecher Urs Meier sagt zu BLICK: «Bei Coop gibt es ausschliesslich Bio-Produkte mit der Knospe von Bio Suisse.» Es ist eine Anspielung darauf, dass Bolliger nicht konsequent auf Bio setzen will, sondern IP bevorzugt. Und dass die Migros auf die deutsche Marke Alnatura setzt. Diese erfüllt nicht die strengen Schweizer Regeln, sondern bloss die weniger strengen Leitplanken der EU. «Coop-Produkte machen einen klaren Unterschied», sagt Meier. In anderen Worten: Coop hält nichts von Kompromissen.
Aber was ist überhaupt Bio? Wie viel teurer ist Bio? Was ist der Unterschied von Bio zu IP? Wie erkennt eine Biene, ob sie auf einer Bio-Blüte landet? Alle diese Fragen und viele weitere beantwortet BLICK.
Was ist der Unterschied zwischen einem konventionell gezüchteten und einem Bio-Rüebli?
Optisch gibt es keinen Unterschied. Geschmacklich auch kaum, obwohl das einige Bio-Fans behaupten. (Sehen Sie das Video dazu oben).
Was bedeutet Bio überhaupt?
Unter die Bio-Verordnung des Bundes fallen Nahrungsmittel, die ohne chemisch-synthetische Unkrautvernichter hergestellt wurden. Auch beim Düngen, dem Tierschutz und den Massnahmen zum Erhalt der Artenvielfalt gibt es strenge Regeln.
Was ist konventionell?
Landwirtschaft gemäss den gesetzlichen Mindestanforderungen.
Welche Mittel werden dort eingesetzt?
Chemische Dünger und Pestizide, die nicht nur in die Gewässer fliessen und im Boden bleiben, sondern sich auch in den Produkten festsetzen.
Wie hoch konzentriert?
Im Schnitt enthalten konventionell hergestellte Produkte 400 Prozent mehr Pestizide, rund 50 Prozent mehr vom Schwermetall Kadmium. Dagegen enthalten sie bis zu zwei Drittel weniger Antioxidantien, welche unsere Zellen schützen.
Ist Bio darum gesünder?
Das ist umstritten. Es gibt keine Langzeitstudien dazu. Dass konventionell hergestellte Produkte eine gewisse Menge Schadstoffe enthalten, ist gesetzlich erlaubt. Wie schädlich diese wirklich sind, ist umstritten – und auch der Umgang damit. Zum Beispiel will Frankreich den Unkrautvernichter Glyphosat verbieten, aber die EU und die Schweiz haben kein Verbot geplant.
Wie helfen Bio-Bauern nach, damit bei ihnen trotzdem etwas wächst?
Sie brauchen nur biologische Dünger wie Gülle, Mist oder Gründüngung. Zudem dürfen sie Kupfer zur Pilzbekämpfung auf die Felder spritzen. Weiter setzen die Bio-Bauern auf Nützlinge, welche die Schädlinge natürlich bekämpfen, und auf robuste Pflanzensorten.
Dürfen Bio-Bauern Maschinen einsetzen?
Ja.
Welches sind die Schattenseiten von Bio?
Auf der gleichen Fläche produzieren Bio-Bauern ein Viertel weniger. Kurios: Der Proteingehalt ist im Bio-Weizen tiefer, darum klebt der Teig daraus oft nicht so gut zusammen.
Gefährdet Bio wirklich die Welternährung, wie Migros-Boss Herbert Bolliger behauptet?
An der These des Migros-Chefs ist etwas dran: Bei gleichem Konsumverhalten der Welt wäre eine reine Bio-Produktion tatsächlich ein Problem, weil sie viel ineffizienter ist. Forscher Adrian Müller (46) vom Forschungsinstitut für biologischen Landbau (Fibl) in Frick AG schreibt jedoch in einer kürzlich publizierten Studie im Magazin «Nature»: «Wenn weniger Essen verschwendet und weniger an Tiere verfüttert wird, ist es machbar.»
Was ist dieses IP, das Bolliger statt Bio will?
IP steht für integrierte Produktion. Chemie ist erlaubt, aber nur, wenn zum Beispiel ein Ernteausfall droht. Bolliger sagt darüber: «IP ist gleichzeitig effizient und nachhaltig. Das ist der richtige Weg. Bio hingegen ist eine Nische.»
Wollen die Kunden überhaupt Bio?
Ja. In der Schweiz ist der Bio-Markt seit 2010 um zwei Drittel auf 2,5 Milliarden Franken gewachsen. Bio kommt damit auf einen Marktanteil von 8,4 Prozent.
Wie viel teurer ist Bio im Schnitt?
Bio wird immer beliebter, darum wächst auch der Preisaufschlag. Laut Bundesamt für Landwirtschaft (BLV) beträgt der Bio-Aufschlag im Schnitt 45 Prozent.
Bio ist teurer als konventionell. Ist das nicht Abzocke?
Fibl-Forscher Müller: «Auf keinen Fall! Die konventionelle Landwirtschaft hat viele negative Umwelteinwirkungen. Die Folgen muss die Gesellschaft tragen, nicht der Bauer. Deshalb kann er tiefe Preise anbieten. Der Bio-Bauer dagegen trägt die Kosten für die umweltschonende Produktion und muss sie an die Kunden weitergeben. Weder Gesellschaft noch Umwelt leiden.»
Und wollen die Bauern Bio?
Und wie! Seit dem Jahr 1981 hat sich die Zahl der Bio-Bauernhöfe versechsunddreissigfacht auf 6348 Bauernhöfe (siehe Grafik). Das liegt nicht nur daran, dass Bauern Bio lieben, sondern auch an den Subventionen. Biobauern erhalten mehr.
Schmeckt Bio besser als der Rest?
Fibl-Forscher Müller: «Nein. Bio-Bauern hatten einfach lange die feineren Sorten als die Konkurrenz. Die Produktionsmethode an sich hat aber keinen Einfluss auf den Geschmack.»
Warum gibt es Bio-Deo, -Zahnpasta oder -Shampoo?
Auch die Inhaltsstoffe von Non-Food-Artikeln können biologisch hergestellt werden. Auch hier gilt: Ob sie wirklich gesünder sind, ist nicht klar, dafür wird die Umwelt geschont.
Stichwort Honig: Wie wissen die Bienen, welche Blumen bio sind?
Wissen sie nicht. Die Bienenstöcke müssen aber aus Öko-Materialien sein. Zudem müssen sie so aufgestellt sein, dass drei Kilometer um sie herum hauptsächlich Bio-Kulturen stehen. Zudem werden weniger Medikamente eingesetzt.
Seit wann gibt es Bio?
Bereits in den 1920er-Jahren begründete Rudolf Steiner (†1925) die Bio-Bewegung. Er wollte ein Gegengewicht zur zunehmenden Industrialisierung setzen. Der erste Bauernhof wurde im Jahr 1930 im Thurgau komplett auf Bio umgestellt.
Welche Tierschutz-Massnahmen enthält Bio?
Alle Tiere dürfen regelmässig an die frische Luft. Zudem gibt es keine Massenhaltung wie anderswo. Prophylaktische Antibiotika-Behandlung ist verboten. Für Rinder sind bei Bio Suisse nur maximal zehn Prozent Kraftfutter erlaubt.
Warum sind Bio-Produkte oft in Plastik eingeschweisst, während Nicht-Bio-Produkte lose herumliegen?
Das Gesetz verlangt eine strikte Trennung. Die Kunden könnten die Produkte sonst nicht mehr unterscheiden. Bio-Produkte sind in der Unterzahl – da ist es sinnvoller, diese einzupacken.
Warum sind die Bio-Produkte im Supermarkt oft auf Augenhöhe, während man sich für die Billig-Varianten verrenken muss?
BLICK hat diese Frage den Detailhändlern gestellt. Lidl und Aldi schreiben, das sei bei ihnen gar nicht der Fall. Die Antwort von Coop: «Wir ordnen unser Sortiment so an, dass alle Produkte gut erreichbar sind. Bio-Produkte sind besonders beliebt und deshalb häufig auf Augenhöhe.»
Helfen Bio-Produkte im Kampf gegen die Klimaerwärmung?
Generell ja. Jetzt im Winter interessant: Wächst eine Salatgurke im beheizten Gewächshaus in der Schweiz, verbraucht ihre Produktion fünf Mal mehr Energie, als wenn die Gurke im unbeheizten Gewächshaus in Südspanien wächst. Der Transport über Land fällt nicht stark ins Gewicht.