Was für ein Sommer! Leere in den Städten, Ansturm der Gäste am Berg. Die Tourismusbranche meldete diese Woche eine «grosse Lust an Ferien im eigenen Land» in den Monaten Juni bis August. Der Alpen-Ansturm der Flachländer war coronabedingt abzusehen. «Traditionelle Alpendestinationen sind beliebt wie nie», jubelt die Vermarktungsorganisation Schweiz Tourismus.
Der Ansturm liess Bergler und Naturschützer Anfang Juni regelrecht in Schweiss ausbrechen. Im Hinterkopf: herumliegende Plastikflaschen und -teller, Zigarettenkippen und Verpackungen, Brandlöcher durch Fertiggrills auf den Wiesen – in städtischen Gebieten im Sommer immer wieder ein Ärgernis für viele. Dann die Bilder, die auch BLICK zeigte: Scharen von Wandervögeln, die im Berner Oberland zum Oeschinensee hinaufstiegen. Manche von ihnen schlugen sogar ihre Zelte auf. So warnten Naturschützer und Ranger vor mit Abfall verwüsteten Picknickplätzen, Musikradau in Wildruhezonen, Ärger mit Einheimischen. Der Tenor damals: Städter wüssten sich in der Natur nicht zu benehmen und würden Fauna und Flora erheblichen Schaden hinzufügen.
Jetzt zeigt sich aber: Das Albtraumszenario ist ausgeblieben. Müllchaos und Radau in den Bergen: Fehlanzeige! Touristen aus den Städten, die sich für gewöhnlich an Mittelmeerstränden in der Sonne aalen, behandelten die Natur sehr wohl mit Respekt.
Wanderer alias Abfall-Polizisten
Das bestätigt Ernst «Aschi» Wyrsch (59). «Die Abfallsituation in den Bergregionen war bewältigbar», sagt der Präsident der Bündner Hoteliers. Laut der Tourismus-Ikone hat sich die Corona-Krise sogar positiv auf die Mentalität von Herrn und Frau Schweizer ausgewirkt. «Viele Leute haben sich verstärkt mit den Folgen ihres Verhaltens auf Mensch und Umwelt auseinandergesetzt.»
Die Menschenmassen hätten gar zur Verhinderung eines Müllchaos beigetragen – dank Wanderern, die die Abfall-Polizei mimten. Wyrsch: «Ich habe mehrmals miterlebt, wie sich Wanderer untereinander auf ihr Fehlverhalten hingewiesen haben.»
«Volk von Wanderprofis»
Eine Reihe von BLICK befragten Bergdestinationen stimmt in Wyrschs Lobeshymne ein. Daniel Luggen (48), Kurdirektor in Zermatt VS, ist zufrieden. Bis auf einige Wildcampierer bescherte ihm der Ansturm der Einheimischen keine Probleme. Zugemüllte Wanderwege? Keine Spur davon. «Die Schweizer sind in dieser Hinsicht gut erzogen», sagt Luggen.
Was sich am Fusss des Matterhorns geändert hat: In normalen Jahren reist über die Hälfte der Gäste aus dem Ausland an. Dieses Jahr bleiben sie fast gänzlich weg – und werden von Einheimischen ersetzt. Das zwingt Gemeinden und Touristiker zu Anpassungen. «Diesen Sommer sind die Leute öfters mit Rucksack und Picknick anzutreffen», weiss Luggen, «Abfalleimer bei Picknickplätzen müssen wir deshalb doppelt so oft leeren.»
Zudem freut ihn: «Normalerweise begeht eine grosse Mehrheit der Gäste einen kleinen Teil der Wanderwege.» Das ist dieses Jahr anders. Die Bergstürmer sind besser auf die verschiedenen Routen verteilt. «Ein Volk von Wanderprofis», schliesst Luggen.
Selbst die Bündner sind zufrieden
Wenn eine Ferienregion das Verhalten der Schweizer beurteilen kann, dann der Kanton Graubünden. Keine andere Feriendestination konnte vom Run auf die Berge so profitieren. Im Bündnerland ist die Anzahl Logiernächte im ersten Halbjahr nur um knapp ein Viertel zurückgegangen – deutlich weniger als im Rest des Landes, wo Hotelbetten doppelt so oft leer blieben als noch 2019.
Für Martin Vincenz (57), CEO von Graubünden Ferien, ist klar: «Wir sind uns hohe Gästefrequenzen vor allem vom Wintertourismus her gewohnt.» Dementsprechend habe man sich auf den Ansturm vorbereitet. Dazu beigetragen habe auch das gute Verhalten der Touristen: «Wir hatten diesbezüglich überhaupt keine Probleme.» Er applaudiert sogar: «Bravo Schweiz!»
Die einzelnen Destinationen bestätigen gegenüber BLICK das Fazit des Chefs. Luana Tscharner (32) von Tourismus Savognin Bivio Albula: «Wir haben keine negativen Erfahrungen gemacht. Die Schweizer haben sich sehr gut benommen.»
In der Ferienregion Lenzerheide sind die Übernachtungszahlen im Juni gegenüber dem Vorjahr um nur zehn Prozent zurückgegangen. Dort sagt der Lenzerheidner Tourismus-Direktor Bruno Fläcklin (47): «Mühe hatten einzig einige Zweitheimischen, die den Sommer normalerweise im Ausland verbringen. Die Gästemassen führten bei ihnen zu einer gewissen Überforderung.»
Rekord-Sommerbilanz der Tourismusbranche
Wie Graubünden erlebten auch andere Bergdestinationen in diesem Sommer trotz Corona Rekordzahlen – zumindest bei den heimischen Gästen. Gemäss der neuen Zwischenbilanz zum Sommer von Schweiz Tourismus und den Bergbahnen kletterten die Hotelübernachtungen von Binnentouristen um 37 Prozent. Das entspricht eine Million Übernachtungen mehr als zur selben Zeit im Vorjahr!
Ein Loch in die Rechnung vieler Betriebe reisst jedoch das «erschreckende» Minus von 44 Prozent bei den ausländischen Bergsommer-Gästen, wie Schweiz Tourismus festhält. Dieses Minus lässt sich auch durch das einheimische Gästeplus nicht ganz kompensieren. Die Gesamtbilanz der Sommerferien-Saison in den Bergen fällt negativ aus, aber mit minus 5 Prozent gegenüber dem Vorjahr dürfte das zu verkraften sein.