Beatrice Tschanz, in diesen Tagen wandern Ihre Gedanken bestimmt zurück.
Beatrice Tschanz: 25 Jahre, das ist mehr als eine ganze Generation. Doch jedes Jahr ist es das Gleiche: Das warme Licht Anfang September erinnert mich an diese Tragödie. Dann kommen Bilder von damals.
Was sind das für Bilder?
Um vier Uhr klingelte das Telefon, am Morgen nach dem Unglück. Ich war im Bett. Nachdem ich die schockierende Nachricht erhalten hatte, fuhr ich sofort zum Flughafen Kloten. Im Auto realisierte ich: Ich träume nicht, um Gottes willen, es ist wahr! 229 Menschen sind gestorben. Ich erstarrte, es lief mir kalt den Rücken runter.
Welche Bilder tauchen ausserdem auf?
Am selben Tag informierten mein Team und ich die Angehörigen der Opfer und die Öffentlichkeit, organisierten für Angehörige und Medienschaffende einen Flug von Zürich nach Halifax. Kurz nach dem Unglück stand ich dort am Hafen und sah, wie Leichensäcke von Schiffen getragen wurden. Das ging mir sehr nahe. Ich betreute Angehörige, sah viele erschütterte Gesichter. Und noch etwas bleibt mir von diesem Aufenthalt…
Was bleibt Ihnen noch?
Mein Gespräch mit dem lokalen Untersuchungsleiter Vic Gerden. Er sagte: «Beatrice, no communication at all!» – keine öffentliche Stellungnahme. Meine Antwort: «Unmöglich!» Ich überzeugte ihn davon, dass ein Unternehmen wie die Swissair eine solche Tragödie nicht unter dem Deckel halten darf.
War Transparenz damals nicht üblich?
Es war das erste Mal, dass ein Schweizer Unternehmen alles aufmachte, statt die Rollläden runterzulassen. Das wurde Standard. Ich war ein Teil des grossen Emergency-Teams unter der Leitung von Beat Schär. Mein Chef, Swissair-CEO Philippe Bruggisser, hielt mir den Rücken frei. Er vertraute mir. Ich hielt mich an die Devise, die er mir am Tag nach dem Unglück gab.
Diese lautete?
Zuerst denken, dann reden! Als «Sponti» nahm ich mir das zu Herzen. Hunderte von Interviews gab ich damals, jeden Tag war ich in der «Tagesschau». Wenn bei uns Feierabend war, gings mit den USA los. Auch CNN und amerikanischen Zeitungen stand ich Red und Antwort: 96 Opfer stammten aus den USA. Ich hatte sehr viel Adrenalin im Blut.
Wie lang dauerte diese anstrengende Zeit?
Die ersten sechs Wochen waren extrem intensiv. Zwei Stunden Schlaf am Tag, dann eine kalte Dusche – und weiter gings! Ich sage immer: Menschen trauen sich viel zu wenig zu! Jeden Tag kamen Stewardessen zu mir und baten um eine Widmung in ihrem Poesiealbum. Sie sagten: «Wir sind so froh, dass wir Sie haben!» Das half und motivierte!
Mit Ihrer Art wurden Sie das Gesicht der Swissair.
Ich bekam kiloweise Post, auch von Unbekannten. Voller Lob und Dank. All diese Briefe legte ich in Bundesordnern ab. Nach ein paar Jahren sagte ich mir: Weg damit! Einen Brief hab ich heute noch.
Von wem?
Von Bundesrat Adolf Ogi, handgeschrieben, auf offiziellem Papier. Das tat gut. Sein Schreiben hat mich sehr gerührt, ich war stolz darauf. Vielleicht lasse ich es noch rahmen.
Der Absturz löste eine Welle von Schock und Anteilnahme aus.
Die Swissair ist die emotionalste Marke, die die Schweiz je hatte. Jeder kannte sie, jeder hatte eine Meinung. Sie wurde geliebt, auch kritisiert. Sie war ein Stück unserer Identität.
Die Tragödie liess Sie leiden. Wie gingen Sie damit um?
Ein Swissair-Careteam war damals erst im Aufbau – seine Mitglieder haben hervorragende Arbeit geleistet! Ich nahm keine psychologische Hilfe in Anspruch. Ich hatte so viel zu tun, Gefühle in mir liess ich nicht zu.
Ging das gut?
Ende Dezember flog ich mit meinem Ehemann in die Karibik. Als ich am ersten Abend am Meer stand, kamen die Tränen. Drei Tage lang hab ich nur geheult. Der Druck musste raus.
Was hat die Tragödie mit Ihnen gemacht?
Ich war ein Paradiesvogel. Die wirkliche Ernsthaftigkeit lernte ich durch Halifax. Kein falsches Wort, kein falscher Ton, Mensch sein: Es war ein herausfordernder Job. Ich bin ein Mensch, der lernen musste, loszulassen. Halifax habe ich losgelassen. Beim grossen Gedenkgottesdienst für Angehörige vor 15 Jahren war ich dabei. Solche Veranstaltungen gibts seither nicht mehr, auf Wunsch der Angehörigen. Mit einem von ihnen bin ich noch in Kontakt.
Mit jemandem, den Sie betreut haben?
Ja, mit einem Schweizer, der seinen Sohn und seine Tochter verloren hat. Ich begleitete ihn in Halifax. Es war ein schwerer Gang für ihn, einen zurückhaltenden Herrn aus dem diplomatischen Dienst – nicht so emotional wie ich. Einsam stand er am Ufer und schaute aufs Meer. Das nahm mich sehr mit, es beschäftigte mich lange. Die Schönheit der Natur und die Tragödie, die sich dort abspielte – der Gegensatz ist unglaublich. Heute geht es dem Mann gut. Und auch ich konnte irgendwann einen Schlusspunkt setzen.
Wann war das?
Vor 15 Jahren. Der Absturz und die Zeit danach sind ein Teil von mir, sie haben mich geprägt. Halifax hat mich in die Öffentlichkeit katapultiert. Das bekomme ich noch heute zu spüren.
Inwiefern?
Ich werde noch oft auf damals angesprochen. Heute Morgen zum Beispiel, hier im Hotel beim Zmorge. Ein älteres Schweizer Ehepaar sagte zu mir: «Halifax, 1998. Gellet, das sind doch Sie? Sie hatten es schon schwer.»
Was haben Sie geantwortet?
Dass ich einfach versucht hatte, meinen Job gut zu machen. Irgendwann hängt es an, dauernd darauf angesprochen zu werden. In solchen Situationen muss ich mich motivieren.
Haben Sie noch Kontakt mit Philippe Bruggisser?
Wir treffen uns, wenn er in der Schweiz ist. Höre ich dann Leute tuscheln: «Das ist doch der, der die Swissair ins Grab geritten hat», sage ich ihm: «Entspannen, Philippe! Das ist wurscht.» Einmal waren wir zusammen im Opernhaus Zürich. War das ein Spiessrutenlaufen! In der Pause sind wir gegangen. Mittlerweile geht es Philippe gut. Doch er hat lange Zeit gelitten.
Wohl auch wegen des Swissair-Groundings 2001.
Ja. Unfairer konnte man ihn nicht behandeln! Der Swissair-Verwaltungsrat hat die Hunter-Strategie, den Aufbau einer eigenen Allianz unter Swissair-Führung, gepusht. Doch als das mit den Beteiligungen dann schieflief, ging der VR in Deckung – und alle gaben Konzernchef Bruggisser die Schuld. Das ist eine Verfälschung der Geschichte! Der Untergang der Swissair hätte nicht sein müssen. Für die Leute ist Bruggisser noch heute ein rotes Tuch. Das empfinde ich als zutiefst ungerecht. Er hat Fehler gemacht, klar. Doch die heutige Nullfehlertoleranz finde ich falsch und gemein.
Wie sieht heute Ihr Alltag aus?
Ich bin ein Oldie, gehe schnurstracks auf die 80 zu. Regelmässiges Krafttraining hält mich fit. Als Präsidentin der «Oase Holding» engagiere ich mich für begleitetes Wohnen im Alter. Ich habe wenige, ganz liebe Freunde. Nachdem 2022 mein zweiter Mann gestorben war, musste ich lernen, allein zu leben, bei mir zu Hause in Rapperswil-Jona. Zu Beginn war es happig. Nun sehe ich die schönen Seiten des Lebens, die vielen Freiheiten. Man muss seiner mentalen Gesundheit Sorge tragen. Für mich ist das Leben trotz allem ein Fest. Ich bin oft unterwegs, reise viel. Bei meinen letzten Ferien in den USA sagte mir eine Frau: «You should go for a lifting!» Ich lachte, sagte nur: «Kommt nicht in Frage! Will ich aussehen wie ein Fixleintuch?»
Wenn Sie verreisen, dann mit Swiss?
Als Tor zur Welt haben wir Schweizer zum Glück die Swiss. Ich bin eine treue Swiss-Kundin, Billig-Airlines sind nichts für mich. Ich kenne einige Menschen, die nach Halifax nie mehr in ein Flugzeug gestiegen sind.
Wenn sich der Absturz am 2. September jährt, pflegen Sie dann jeweils ein Ritual?
Nein. Doch ich denke dann immer an die Menschen, die ich verloren habe: meinen an Krebs verstorbenen ersten Ehemann Pierre Tschanz, meinen Bruder und seine Frau, die bei einem Flugzeugunglück ums Leben kamen, meinen zweiten Ehemann Herbert Kramel und meine einzige Schwester. Der 2. September ist fest eingraviert in meinem Herzen. Wie bei allen, die an diesem Tag einen Liebsten verloren haben. 229 Menschen kamen in Halifax ums Leben, über 100 davon stammten aus der Schweiz. Das Schwere trägt man bis zum Ende in seiner Seele. Damit müssen wir leben.