«Talita kum» ist Aramäisch und bedeutet: «Mädchen, steh auf». Mit diesen Worten soll Jesus ein für tot gehaltenes Kind aus dem Schlaf geweckt haben. Und mit demselben Spruch will der Obwaldner Filmemacher Luke Gasser (57) eine Debatte eröffnen, die seiner Meinung nach bisher verschlafen wurde.
Gassers neuer Film «Talita kum – Das Schweigen zur falschen Zeit» widmet sich dem «Versagen der katholischen Kirche, der Politik und der Medien in Zeiten von Corona».
Im Film hat auch Jörg Gasser (54) einen Auftritt. Er ist der Cousin des Filmemachers, war von 2016 bis 2019 Ueli Maurers Staatssekretär und bis vor kurzem CEO der Schweizerischen Bankiervereinigung. Im Film überrascht Jörg Gasser mit so mancher Aussage.
Herr Gasser, sind Sie Corona-Leugner?
Jörg Gasser: Nein. Covid-19 ist ein Fakt, und ich bin geimpft. Aber ich kritisiere, dass die Schweiz teilweise sehr sorglos mit den Ängsten und Bedenken derer umgegangen ist, die sich nicht impfen lassen wollten. Man hat die Menschen sehr rasch in eine Ecke gedrängt, die einer Demokratie unwürdig ist.
Nämlich?
Wir haben in der Schweiz das Recht zu sagen, was wir denken. Und wenn die Leute zu schweigen beginnen, weil sie Angst haben, als Alu-Köpfe oder Schwurbler in eine Ecke gestellt zu werden, dann stimmt etwas nicht. Die Medien haben hier keine gute Rolle gespielt. Das beschäftigt die Menschen nach wie vor. Und das kann ich nachvollziehen.
Im Film Ihres Cousins sprechen Sie von einem faktischen Impfzwang. Als Sie das Interview gaben, waren Sie noch CEO der Bankiervereinigung. Passt Ihre Aussage zum Dachverband der Schweizer Kreditinstitute?
Nein. Ich habe im Film als Privatperson gesprochen. Der Schutz der Mitarbeitenden war bei der Bankiervereinigung sehr wichtig und die Bankiervereinigung hat sich stets an die geltenden Vorgaben gehalten.
Im Film ist auch vom «Great Reset» die Rede. Es geht dabei um ein Buch des WEF-Gründers Klaus Schwab, das die Fantasien von Verschwörungstheoretikern beflügelt.
Ich bin kein Verschwörungstheoretiker und mein Cousin ist auch keiner. Es gibt keinen «Great Reset», also den Plan, dass die Welt hierarchisch neu durchorganisiert werden soll und ein Neustart möglich wäre. Die Welt ist sehr viel chaotischer und oftmals von Zufällen abhängig. Also viel zu kompliziert, als dass «Great Masterminds» irgendwelche Pläne umsetzen könnten. Wenn es so wäre, wäre es erschreckend, aber ich glaube nicht, dass es die gibt.
Jörg Gasser (54) war von 2019 bis Februar 2023 CEO der Bankiervereinigung. Davor war der Nichtbanker rund zehn Jahre in leitenden Funktionen bei der Eidgenossenschaft tätig, unter anderem als Generalsekretär von Eveline Widmer-Schlumpf und Ueli Maurer, zuletzt als Staatssekretär für internationale Finanzfragen. Der Obwaldner studierte Volkswirtschaft und Internationale Beziehungen an der Uni Zürich.
Jörg Gasser (54) war von 2019 bis Februar 2023 CEO der Bankiervereinigung. Davor war der Nichtbanker rund zehn Jahre in leitenden Funktionen bei der Eidgenossenschaft tätig, unter anderem als Generalsekretär von Eveline Widmer-Schlumpf und Ueli Maurer, zuletzt als Staatssekretär für internationale Finanzfragen. Der Obwaldner studierte Volkswirtschaft und Internationale Beziehungen an der Uni Zürich.
Im Film fahren Sie mit Ihrem Cousin nach Davos, um über die Macht des WEF zu sprechen.
Ich habe den Film noch nicht gesehen und kann nur so viel sagen: Ich habe als Staatssekretär am WEF teilgenommen und später als CEO der Bankiervereinigung an einem Nebenevent, der von Liechtenstein zum Thema Geldwäsche organisiert wurde. Das WEF ist trivialer, als Verschwörungstheoretiker es sich vorstellen.
Was meinen Sie mit «trivial»?
Beim WEF kommen Menschen zusammen und besprechen Anliegen. Für die Schweizer Regierung ist das Treffen sehr nützlich, um ein bilaterales Treffen nach dem anderen durchzuführen. Als Staatssekretär habe ich dort mit Ueli Maurer zum Beispiel mit Steve Mnuchin zu tun gehabt – er war Donald Trumps Finanzminister. Es ging um die Revision des Steuerabkommens zwischen der Schweiz und den USA. So ein Gespräch ist sehr kurz, wir hatten nicht viel Zeit. Ziel des Gesprächs war es, dass der US-Minister grünes Licht gibt, damit die Entourage technische Gespräche starten kann. Das war ein normales bilaterales Gespräch – recht trivial und keine neue Weltordnung.
Der Film warnt vor dem chinesischen Überwachungsstaat. Werben die Chinesen beim WEF für den Weg der Kontrolle?
Nein (lacht). Als Ueli Maurer und ich mit China gesprochen haben, standen finanzpolitische Themen auf dem Programm, zum Beispiel, wie sich der Finanzplatz Schweiz in China etablieren kann. Wir wollten auch erfahren, was China über eine globale Besteuerung denkt.
Ihr Cousin spricht Sie im Film auf Klaus Schwabs angebliche Sympathien für den chinesischen Weg der Kontrolle an.
Ich weiss nicht, was Klaus Schwab über China denkt. Ich denke, es geht um die grosse Frage: Was möchten wir mit Blick auf die «Neue Seidenstrasse» erreichen? Inwiefern betrifft das die Schweiz? Ich könnte mir vorstellen, dass das hier mitschwingt. Damit keine Missverständnisse entstehen: In der Schweiz hat niemand Interesse am chinesischen Weg der Kontrolle.
Im Film geht es auch um die Kapital-Umschichtung von unten nach oben während der Corona-Pandemie. Sie sagen, der Mittelstand habe keine Stimme. Passt diese Aussage zu einer Bankiervereinigung, die gerade von Superreichen profitiert?
Für die Banken und die Schweiz ist es gut, wenn Wohlhabende ihr Geld in der Schweiz anlegen. Es ist nicht schlecht, dass die Vermögen angewachsen sind. Schlecht hingegen ist die Verteilung. Global ist nicht wegzudiskutieren, dass die Reichen reicher und die Armen ärmer geworden sind, vor allem während der Pandemiejahre. Das betrifft auch die Schweiz, wenngleich in geringerem Ausmass als andere Länder. Wir dürfen nicht selbstgefällig der Meinung sein, wir können so weitermachen wie bisher. Die Politik braucht ein klares Bild der Realität in diesem Land. Auch mit Blick auf die Wahlen im Herbst.
Ihre Demission als CEO der Bankiervereinigung im Januar kam überraschend. Hat der Film Ihres Cousins damit etwas tun?
Überhaupt nicht. Es war ein guter Zeitpunkt zu gehen. Wir haben seit Herbst mit Karin Keller-Sutter eine neue Finanzministerin, die Bankiervereinigung hat seit 2021 mit Marcel Rohner einen neuen Präsidenten und wir haben dieses Jahr Wahlen. Ich habe 2019 gesagt, dass ich nicht bleiben möchte, bis ich pensioniert bin. Mir war wichtig, dass meine Nachfolge bis zu den Wahlen neu eingearbeitet ist.
2021 trat die Raiffeisenbank aus der Bankiervereinigung aus. Mussten Sie deshalb gehen?
Nein. Die Atmosphäre und der Austausch mit dem Verwaltungsrat der Bankiervereinigung waren immer sehr gut und konstruktiv. Ich habe den Austausch mit dem Präsidenten und dem ganzen Verwaltungsrat sehr geschätzt.
Sie kommen ursprünglich aus der humanitären Hilfe, waren unter anderem für das Rote Kreuz in Afghanistan. Passen Sie überhaupt in die Teppichetagen der Bankenwelt?
Es wäre für Sie eine bessere Story, wenn es Schwierigkeiten gegeben hätte, wie das jetzt bei meiner Ex-Kollegin Livia Leu im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten insinuiert wird. Bei mir war es anders. Ich bin kein klassischer Bankenlobbyist. Aber ich habe bei der Bankiervereinigung einige strategische Ziele im Bereich der Nachhaltigkeit erreicht. Nun hatte ich das Gefühl: Die Zeit ist gekommen, um etwas anderes zu machen.
Sie waren Ueli Maurers Staatssekretär. Wurden Sie von seinem Rücktritt letztes Jahr überrascht?
Ja. Ich bin davon ausgegangen, dass er erst am Ende der Legislatur zurücktritt.
Seit Herbst kursierten Gerüchte, wie schlecht es der Credit Suisse geht. War das für Maurer und Sie der Grund, das Feld zu räumen?
Ich kann nur für mich sprechen. Ich wusste, dass es der CS schlecht ging – aber ich wusste nur das, was den Medien zu entnehmen war. Mit meinem Rücktritt bei der Bankiervereinigung hat das nichts zu tun. Ich habe Ende Februar die Geschäfte übergeben und beschäftigte mich seitdem mit anderen Themen. Am 19. März hing ich auch nicht vor dem Livestream, sondern habe das Ende der Credit Suisse erst am Montagmorgen in der Zeitung zur Kenntnis genommen.
Laut dem neuen UBS-CEO Sergio Ermotti ist die CS-Krise auf die letzten sieben Jahre zurückzuführen. Müssen Sie die Parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) fürchten, die es wohl geben wird?
Nein. Ich hätte als Staatssekretär etwas falsch gemacht, wenn ich versucht hätte, auf das Management direkt Einfluss zu nehmen. Das ist nicht meine Aufgabe. Auch als Direktor der Bankiervereinigung war das nicht meine Aufgabe, es ging vielmehr darum, den Finanzplatz Schweiz zu stärken. Jeder hat eine Rolle zu spielen – und ich war in die CS-Krise nicht involviert. Ich bezweifle auch, dass mich die PUK vorladen wird. Ich finde es aber gut, dass man das aufarbeitet. Es geht jetzt darum, dass so etwas nicht wieder geschehen kann.
Wo liegt aus Ihrer Sicht das grösste Versäumnis?
Bei der PUK wird es auch um die Regulierung «Too big to fail» gehen, die vor über zehn Jahren von einer unabhängigen Expertenkommission erarbeitet wurde. Ziel war es, eine globale Finanzkrise zu verhindern. Was damals übersehen wurde: dass eine systemrelevante Bank auch wegen interner Versäumnisse welcher Art auch immer zugrunde gehen kann.
Ueli Maurer wollte die Bankenregulierung zurückdrehen.
Nein, das wollte er nicht. Ziel der Finanzmarktregulierung ist es, einen stabilen, funktionsfähigen Finanzplatz zu haben. Dass Regulierungen kritisch hinterfragt werden, ist richtig; auch Ueli Maurer hat das getan. Es ging ihm nicht um eine schwache Regulierung, sondern um einen starken, wettbewerbsfähigen Finanzplatz. Im Übrigen wurden zu seiner Zeit keine Regulierungen abgeschafft.
Steht der Schweizer Finanzplatz nun vor einem Scherbenhaufen?
Momentan sieht es nicht danach aus, aber das wird die Zukunft weisen. Die Welt vergisst relativ rasch. Nach dem Untergang der Swissair haben sich ähnliche Fragen gestellt, doch die Schweiz hat sich schnell von diesem Reputationsschaden erholt.
Sie leben im Thurgau. Wie sieht Ihre eigene Zukunft aus?
Ich möchte weniger operativ und mehr strategisch tätig sein. Ich schaue mich nun um. Und ich habe endlich Zeit für mein Hobby Astronomie. Ich hatte schon lange den Traum, noch mal etwas zu lernen, was nichts mit meiner beruflichen Vergangenheit zu tun hat. Ich mache zurzeit ein Fernstudium an der Uni Melbourne. Das funktioniert sehr gut. Mittlerweile gibt es Teleskope, die das leisten können, was früher nur professionelle Sternwarten konnten. Ich freue mich, wenn meine Sternwarte aufgebaut und das neue Teleskop endlich da ist.