Wie arbeitet es sich mitten im Krieg? In vielen Fällen gar nicht: Die Ukraine rechnet für das laufende Jahr mit einem Einbruch des Bruttoinlandprodukts (BIP) um 30 bis 40 Prozent. Anbauflächen liegen brach, Fliessbänder stehen still, Fabriken werden bombardiert.
Doch nicht alle Firmen haben Fenster und Türen verrammelt und die Arbeit niedergelegt: Aus wirtschaftlichen Gründen versuchen viele weiterzuarbeiten. «Hunderte Firmen ziehen vom Osten in den Westen der Ukraine», erklärt Tetiana Korotka (45), stellvertretende Ombudsfrau für Unternehmen in der Ukraine. Sie weilte kürzlich für ein Symposium an der ZHAW in Winterthur ZH.
Industrieunternehmen an Standorte gebunden
Ihr Job als Ombudsfrau ist es, die wirtschaftliche Lage für Unternehmen in der Ukraine zu verbessern. Derzeit eine Herkulesaufgabe. «Es geht ja nicht nur um Infrastruktur, die zerstört wurde», erklärt Korotka im Gespräch mit Blick. «Auch die Handelsströme sind unterbrochen.» Den Firmen fehlt es an Produkten ihrer Zulieferer, sie müssen ihre Lieferketten vollständig neu aufstellen.
Bereits im März ergab eine Umfrage der European Business Association (EBA), dass rund die Hälfte aller ukrainischen Firmen neue Standorte im Westen des Landes oder gar im Ausland angemietet hatten. Mit dem Andauern der Kämpfe dürfte diese Zahl noch gestiegen sein. Doch nicht alle können über Nacht umziehen: eine IT-Firma schon, eine Stahlgiesserei nicht.
Die Umsiedlung macht an der ukrainischen Grenze nicht halt: «Unsere Nachbarländer haben Unternehmer eingeladen, zu ihnen zu ziehen», erzählt Korotka. Im Sinne der Risikominimierung sind viele Firmen der Einladung gefolgt.
Umzugshilfe in die Schweiz
Polen etwa erlaubt es ukrainischen Bürgern nicht nur, dort Schutz zu suchen – sondern gibt ihnen auch sofort eine Arbeitsbewilligung und ermöglicht ihnen, Firmen zu gründen. Ähnlich in der Schweiz, wo ukrainische Flüchtlinge dank des Schutzstatus S arbeiten und Firmen gründen dürfen.
Der ukrainische Ableger der Nichtregierungsorganisation Transparency International hat gar einen Leitfaden mit Tipps für ukrainische Unternehmer herausgegeben, die umsiedeln wollen.
Findige Unternehmen machen sich die Umzugswünsche vieler ukrainischer Firmen gar zunutze: Das internationale Beratungsunternehmen Crowe etwa, einer der grössten Wirtschaftsprüfer weltweit, wirbt auf seiner Website prominent dafür, ukrainischen Firmen beim Umzug ins Ausland zu helfen. Als Alternative wird den Firmen unter anderem die Schweiz schmackhaft gemacht. In einer Präsentation des Beratungsunternehmens werden Schwyz und Zug als besonders steuergünstige Kantone angepriesen.
Personalmangel in der Ukraine
Tetiana Korotka hat Verständnis für den Exodus. «Für Europa ist das natürlich super: Es handelt sich schliesslich um zusätzliche Arbeitskräfte, die gut ausgebildet sind und mehrere Sprachen sprechen.»
Mehr als sieben Millionen Menschen haben die Ukraine bereits verlassen. Für die Unternehmen, die im Land bleiben, wird das zusehends zum Problem. «Wir werden noch eine Weile mit Personalmangel kämpfen», prognostiziert Korotka.
Zu den sieben Millionen Flüchtlingen kommen einmal mindestens so viele intern Vertriebene hinzu. Sie können ihrer Arbeit teils nicht mehr nachgehen. Zusätzlich dienen Hunderttausende Männer in der Armee – und fehlen der Wirtschaft als Arbeitskräfte.
Wiederaufbau als Geschäftsmöglichkeit
Aber Korotka sieht auch Chancen. «Sobald der Wiederaufbau in der Ukraine beginnt, ergeben sich riesige Geschäftsmöglichkeiten – nicht nur für ukrainische Firmen, sondern auch für internationale.»
Wann es so weit ist, steht in den Sternen. Die Schweiz jedenfalls steht bereit, beim Wiederaufbau ein Wörtchen mitzureden – wie derzeit in Lugano TI.