In Europa und den USA hat die Teuerung acht Prozent längst überschritten, in der Schweiz beträgt sie fast drei Prozent. Nun ziehen die Währungshüter die Schraube an. Auch die Schweizerische Nationalbank (SNB) reagiert. Sie erhöht den Leitzins um 0,5 Prozent.
Die Folge: Aktienhändler schlagen Alarm, die Börse spielt verrückt. Der Swiss Market Index (SMI) sackte im Wochenvergleich um satte vier Prozent ab. Auch die Immobilienmärkte sind in Aufruhr. Und die Analysten rechnen fieberhaft: Kommt jetzt die grosse Rezession?
In Bundesbern herrscht Panik. Dort regiert jetzt Winkelried: Parlamentarier von links bis rechts werfen sich für das krisengeschüttelte Volk in die Bresche und reichen Vorstoss um Vorstoss ein. Gefordert werden Steuersenkungen für Autofahrer, ein Nebenkosten-Deckel für Mieter, die Abschaffung der Verrechnungssteuer für Konzerne, Hunderternoten für Durchschnittsverdiener, tiefere Krankenkassenprämien und höhere Renten für alle.
Was im allgemeinen Tumult untergeht: In der Schweiz gibt es keine Wirtschaftskrise – im Gegenteil. «Es ist ein merkwürdiger Boom», sagt KOF-Direktor Jan-Egbert Sturm (52). «Aber es ist ein Boom.»
Arbeitslosenquote extrem tief
Das sehen auch die Unternehmen so. Sie überbieten sich mit positiven Lagebeurteilungen. Die Auftragsbücher sind voll. Zwar kommen die Waren wegen Lieferketten-Engpässen später an, aber sie kommen. Und die Konsumenten wollen die Güter haben: Die Nachfrage ist massiv gestiegen. Was die Eidgenossen in den letzten zwei Jahren unfreiwillig gespart haben, geben sie jetzt mit vollen Händen aus. Darum steigen die Investitionen der Firmen sogar leicht an – und wegen des internationalen Nachschub-Staus tun sie das auch gleich noch in der Schweiz.
Das Ergebnis: Die Arbeitslosenquote liegt bei extrem tiefen 2,1 Prozent. Das bedeutet praktisch Vollbeschäftigung. «Der Arbeitsmarkt boomt», sagt ETH-Professor Sturm. «Die Jobsicherheit könnte kaum grösser sein.» In fast allen Branchen herrscht Personalnot. Und zwar nicht nur bei Fachkräften, sondern auf sämtlichen Qualifikationsstufen in den unterschiedlichsten Bereichen. In den Schulen, auf dem Bau, in der Gastronomie: Überall suchen die Arbeitgeber händeringend nach Verstärkung.
Davon profitieren die Angestellten. «Knappheit diktiert den Preis», sagt Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff (61). «Deshalb sind die Angestellten heute in einer sehr guten Position. Wer jetzt den Job wechselt, verdient unter Umständen sogar mehr.»
«Die Arbeitgeber müssen etwas bieten»
Zwar ist die Teuerung gestiegen, doch sie betrifft vor allem fossile Energieträger und andere Importprodukte. Die eingeführte Inflation liegt denn auch bei über sieben Prozent – diejenige im Inland hingegen bei 1,5 Prozent. Und da kommt die SNB ins Spiel: «Die Zinserhöhung stärkt den Franken, was wiederum die Inflation bei den Importen dämpft», sagt Claude Maurer (45), Chefökonom von Credit Suisse. Er rechnet für 2022 mit einer vergleichsweise moderaten Teuerung von 2,3 Prozent.
Doch auch wenn sie höher liegt, können die Einkommen mithalten: «Die Reallöhne werden mit grosser Wahrscheinlichkeit ausgeglichen», sagt Martin Neff von Raiffeisen. «Ein durchschnittlicher Lohnanstieg um drei Prozent ist 2022 realistisch.» Hinzu kommt: Wegen der Knappheit an Arbeitskräften sind auch die Chancen auf Beförderungen gestiegen. «Die Arbeitgeber müssen etwas bieten», sagt Claude Maurer. «Das kann mehr Lohn sein, aber auch mehr Homeoffice oder bessere Aufstiegschancen.»
All diese Faktoren lösen laut Claude Maurer von der Credit Suisse eine positive Dynamik aus: «Die Konsumenten bleiben in Kauflaune, weil sie sich ihrer Stelle sicher sind. Davon profitieren wieder- um die Unternehmen.» Die Credit Suisse prognostiziert darum für 2022 ein BIP-Wachstum von 2,5 Prozent.
Es wird zur Zurückhaltung gemahnt
Für Mathias Binswanger (59), Wirtschaftsprofessor an der Fachhochschule Nordwestschweiz, ist klar: «Im internationalen Vergleich gehört die Schweiz zu den Gewinnern. Im Ausland würde unsere Situation bereits als Lösung der Probleme betrachtet.» Raiffeisen-Chefökonom Neff stösst ins gleiche Horn: «Es gibt keinen Grund, flächendeckend zu jammern.» Darum erteilt Neff auch der Vorstossflut im Parlament eine Absage: «Wirtschaftspolitischer Aktivismus ist jetzt fehl am Platz.» Natürlich hätten es Taxifahrer oder Camionneure im Moment nicht einfach. «Aber wenn wir mit selektiver Unterstützung anfangen, bringen wir eine Lawine ins Rollen. Denn mit Verweis auf teurere Vorleistungen könnten auch viele andere Hilfe reklamieren, vom Maschinenbauer bis zum Schreiner.»
Wirtschaftsprofessor Binswanger mahnt ebenfalls zur Zurückhaltung: «Ob es nun um Autofahrer oder Mieter geht: Eingriffe sollten auf jeden Fall erst ab einer bestimmten Preisgrenze erfolgen. Sonst setzt der Staat lediglich Anreize, noch mehr Benzin oder Heizöl zu verbrauchen.»
KOF-Direktor Sturm sagt: «Es gibt unbestritten Haushalte, die ohne eigenes Verschulden unter der Inflation leiden und ohne Hilfe in Schwierigkeiten geraten. Die sollten wir aus sozialen Gründen gezielt unterstützen.» Deshalb ist auch Sturm dafür, über Preis- und Einkommensgrenzen zu diskutieren, bei denen die Hilfe einsetzen soll. In dieser Hinsicht hält er den «Check fédéral» für prüfenswert. Damit wollen die Sozialdemokraten 260 Franken für Erwachsene und 130 Franken pro Kind für kleine und mittlere Einkommen spendieren, sollte die Inflation über fünf Prozent klettern.
Doch die Gefahr eines solchen Anstiegs ist gering. «Vor einer unkontrollierten Inflation müssen wir hierzulande keine Angst haben», sagt CS-Chefökonom Maurer. «Viel wahrscheinlicher ist, dass die Teuerung wieder abnimmt.»