Als Mutter im Detailhandel arbeiten? Fast unmöglich – eine Betroffene erzählt
«Ich werde vom System ausgebremst und im Stich gelassen»

Politische Vorstösse wollen die Öffnungszeiten immer weiter verlängern. Mit einem Familienleben ist das kaum vereinbar. Eine Betroffene packt aus und erzählt.
Publiziert: 25.11.2024 um 12:57 Uhr
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Aktualisiert: 25.11.2024 um 13:57 Uhr
Weihnachten steht vor der Tür – und damit flammt auch wieder die Diskussion über längere Öffnungszeiten im Detailhandel auf. Eine Betroffene erzählt. (Symbolbild)
Foto: Keystone
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Caroline Freigang
Beobachter

«Wie flexibel muss eine Mutter in der heutigen Zeit denn bitte schön sein?» Daniela Burgener, die eigentlich anders heisst, ist verzweifelt. Die 32-Jährige steckt mitten in der Scheidung, als sie sich beim Beobachter meldet. Die gemeinsame Tochter ist seit dem Sommer im Chindsgi – und Daniela Burgener «wie verrückt» auf der Suche nach einer Anstellung im Detailhandel. Doch trotz ihrer jahrelangen Erfahrung will sie niemand einstellen. Jedenfalls nicht zu den Bedingungen, die ihre Lebensumstände ihr auferlegen. Daniela Burgener versteht die Welt nicht mehr: «Da ist man motiviert, zu arbeiten, wird aber vom System ausgebremst und im Stich gelassen.»

Beim Gespräch mit dem Beobachter in ihrem Zuhause im St. Galler Rheintal erzählt sie, dass sie ab Herbst zu mindestens 60 Prozent arbeiten muss. So legt es das Scheidungsurteil fest. Sie und ihr Mann betreuen das Kind in alternierender Obhut, 57 Prozent ist es bei der Mutter, den Rest der Zeit beim Vater. Die junge Frau trägt ein schlichtes, geblümtes Sommerkleid, dezente Ohrringe, die dunklen Haare sind zurückgebunden. 

Das teure Hort-Dilemma

Ihre Stimme bleibt erstaunlich ruhig, wenn sie erzählt, dass sie keinen Betrieb findet, der sie in Teilzeit und an fixen Tagen einstellen möchte. Es sind nicht einfach nur Wunschvorstellungen. Beides braucht Daniela Burgener, um sich an ihren Betreuungstagen um das Kind kümmern zu können.

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Ideal wären zwei fixe Tage und zwei flexible Halbtage. Denn Grosseltern, die unterstützen könnten, gibt es nicht. Ihre Mutter ist nicht mobil. Ein höheres Pensum zu suchen und im Gegenzug einen Hortplatz zum Chindsgi dazuzubuchen, lohnt sich nicht. Und wäre auch zu teuer: «Dann bleibt am Ende des Tages zu wenig übrig.»

Jahrelange Erfahrung, aber …

Daniela Burgener hat eine abgeschlossene Hauswirtschaftslehre und siebenjährige Erfahrung im Detailhandel – doch trotz massiven Fachkräftemangels just in dieser Branche gestaltet sich die Arbeitssuche schwierig. Nach der Babypause kehrte Burgener an ihren alten Arbeitsplatz zurück, 40 Prozent und im Stundenlohn beim Detailhändler Otto’s. Um zwei fixe Tage musste sie sich bemühen, lieber wäre dem Arbeitgeber volle Flexibilität gewesen.

Ihr Pensum auf 60 Prozent zu erhöhen und weiterhin zwei fixe Tage zu gewähren, ging für den Arbeitgeber nur als Überbrückung. Auch eine Festanstellung lehnte Otto’s ab. Man teilte ihr mit: Die gebe es nur für ein Pensum von 60 bis 80 Prozent, nicht für 60 Prozent. Burgener erzählt, dass es noch andere Kolleginnen gab, denen eine Teilzeitstelle mit fixen Arbeitstagen verwehrt wurde. 

Otto’s teilt dazu mit, dass man zu spezifischen personellen Angelegenheiten keine Auskunft gebe. Man bemühe sich stets, individuelle Lösungen für die Mitarbeitenden zu finden. Auf weitere Fragen zu den Arbeitsbedingungen möchte Otto’s «keine öffentliche Stellung beziehen». 

«Ich bin ein bisschen perfektionistisch»

Burgener schickt rund 30 Bewerbungen an andere Firmen, auch an Coop und Migros. Zudem sucht sie Stellen in der Hauswirtschaft, in der Reinigung, in der Küche, als Lagermitarbeiterin. In ihren Anschreiben vermerkt sie jeweils, dass sie auf fixe und regelmässige Arbeitszeiten angewiesen ist.

Viele Arbeitgeber sind an ihr interessiert. Denn neben ihrer Ausbildung und Erfahrung bringt sie auch Freude am Job mit. «Ich mag es, Regale einzuräumen, Displays aufzustellen. Ich bin ein bisschen perfektionistisch», sagt sie lächelnd. 

Zu wenig flexibel, zu geringes Pensum

Doch bisher verschwand das Interesse potenzieller Arbeitgeber jeweils schnell. Es scheitert an Praktischem. Man könne ihr nicht mit fixen Tagen entgegenkommen. Das sei unfair den anderen Mitarbeitenden gegenüber, hört sie oft. Oder: Mit einem so geringen Pensum könne man sie nicht gut einsetzen.

Auch die Arbeitszeiten sind ein Problem. Für eine Stelle an der Migros-Frischetheke etwa hätte sie um sechs Uhr anfangen müssen. «Was soll ich um diese Zeit mit meiner Tochter machen?», fragt Burgener verzweifelt. 

Frühe Anfangszeiten

Viele der Jobs bei Coop und Migros, für die sich Burgener bewirbt, fangen so früh an. Je nach Öffnungszeiten fallen auch Schichten am Abend oder am Wochenende an. Zu diesen Zeiten hat keine Kita mehr geöffnet – besonders nicht in ländlichen Gebieten. Nicht bei ihr im Rheintal. Burgener bräuchte zudem planbare Wochenenden – genauso wie ihr Ex-Mann. Doch viele Arbeitgeber geben Schichtpläne kurzfristig heraus. 

Die Gesamtarbeitsverträge der Detailhändler regeln gewisse Punkte. So halten jene von Coop und Migros fest, dass Wocheneinsatzpläne zwei Wochen im Voraus mitgeteilt werden müssen. Doch das reicht oft nicht, um eine ausreichende Kinderbetreuung sicherzustellen. Kaum eine Kita oder ein Hort sind so flexibel.

Die Gewerkschaft Unia fordert seit langem, dass die Einsatzplanung mindestens vier Wochen im Voraus erfolgt und dass Mitarbeitende kurzfristige Änderungen auch ablehnen können. Die Arbeitgeber seien bislang nicht dazu bereit gewesen, sagt Natalie Imboden von der Unia. 

Händler mit unbestimmten Aussagen

Coop wie auch Migros bleiben auf Nachfrage des Beobachters vage. Sie teilen mit, dass ihnen familienfreundliche Arbeitsbedingungen wichtig seien. Sie würden zudem Teilzeitstellen anbieten. Bei der Migros gebe es zudem Jobsharing, weitere flexible Arbeitsmodelle würden getestet. Um welche es sich handelt, bleibt unklar. 

Der Migros zufolge schätzten viele Mitarbeitende die flexiblen Arbeitszeiten. Jedes Team gestalte seine Arbeitspläne individuell, deshalb sei die «Vielfalt innerhalb jedes Teams wichtig». Auch was das genau bedeuten soll, bleibt schwammig.

Rücksicht – «wenn es die Voraussetzungen zulassen»

Coop setzt eigenen Angaben zufolge auf «flexible und individualisierte Arbeitszeitmodelle», damit Mitarbeitende zum Beispiel ihre Kinder in die Kita bringen oder sie abholen können. Vorgesetzte würden Rücksicht auf Anforderungen der Kinderbetreuung nehmen – «wenn immer es die betrieblichen Voraussetzungen zulassen». 

Wie die flexiblen Arbeitszeiten konkret mit den restriktiven Betreuungszeiten vereinbar sind, wird nicht genauer ausgeführt.

Politik fordert längere Öffnungszeiten

So bleibt auch Daniela Burgener nicht allein mit ihrer Erfahrung. «Die Arbeitsbedingungen im Detailhandel haben sich in den letzten Jahren immer mehr verschlechtert. Der Stress nimmt immer weiter zu – Flexibilität wird immer mehr gefragt», sagt Cornelia Bickert von der Gewerkschaft Syna.

Zudem seien momentan überall Bestrebungen im Gang, das Arbeitsgesetz zu unterwandern und die Öffnungszeiten im Detailhandel weiter zu verlängern und den Sonntag als verkaufsoffen festzulegen. Entsprechende Motionen und parlamentarische Initiativen gebe es überall – in den Kantonen und auf Bundesebene. 

«Bürgerliche Salamitaktik»

So hat der Nationalrat im März 2024 einer Motion von FDP-Nationalrat Philippe Nantermod zugestimmt: Kleine Lebensmittelläden sollen neu auch am Sonntag öffnen können. Die Motion liegt nun beim Ständerat.

Die Gewerkschaft Unia sprach von einer «bürgerlichen Salamitaktik», um die Sonntagsarbeit auszuweiten. Der Arbeitnehmer-Dachverband Travailsuisse kommentierte, die Arbeitsbedingungen im Verkauf seien bereits überdurchschnittlich belastend, und die Löhne seien tief. Ausnahmen für Sonntagsarbeit gebe es zudem schon viele. 

Schwierig für alleinstehende Mütter

Die Leidtragenden der politischen Bestrebungen seien immer die Angestellten im Detailhandel und in den dazugehörenden Branchen, wie etwa der Reinigung, ergänzt Cornelia Bickert von der Syna. «Gerade für alleinstehende Mütter wird es mit längeren Öffnungszeiten umso schwieriger, die Kinderbetreuung zu organisieren, soziale Kontakte zu pflegen oder einem Hobby nachzugehen.» Das sei bereits heute im Detailhandel kaum noch möglich. 

Die Händler sehen das anders. Laut Coop hätten die Öffnungszeiten in den letzten Jahren «grundsätzlich wenig Änderungen» erfahren. An städtischen Standorten schätze die Kundschaft flexiblere Öffnungszeiten, die den veränderten Einkaufsgewohnheiten Rechnung trügen.

Jobs mit IV-Rente

Daniela Burgener rennt mittlerweile die Zeit davon. Sie braucht dringend eine Lösung. Ein Inserat sticht ihr ins Auge: eine Stelle in einem Heim für betreutes Wohnen im Nachbarort. Die Arbeitszeiten würden perfekt passen. Wenn da nicht stünde: «Teil- oder volle IV-Rente zwingend notwendig.» Sie fragt sich in der Folge: «Bleibt mir als geschiedener Mutter nur noch, in privaten Haushalten putzen zu gehen, wo man mit den Arbeitgebern fixe Zeiten abmachen kann?» 

Ihr ist bewusst, dass sie in gewisser Weise sogar privilegiert ist, weil ihr Partner 50 Prozent der Kinderbetreuung übernimmt. «Wie machen das Alleinerziehende?», fragt sie sich. Und doch gestaltet sich die Jobsuche weiter schwierig.

Dann hat Burgener doch noch Glück. Sie findet ein Pflegeheim, das sich bereiterklärt, sie zu fixen Tagen einzustellen. Zunächst mit 40 Prozent, aber mit Aussicht auf 60 Prozent. Es ist nicht ihr Traumjob. Aber sie kann arbeiten. Und das ist es, was sie eigentlich immer wollte.

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