Seine Wut auf die St. Gallisch-Appenzellischen Kraftwerke (SAK) ist gross. «Die Stromkosten sind brutal. Das schlägt voll auf uns durch», sagt der Besitzer eines mittelständischen Unternehmens mit rund einem Dutzend Angestellten. «Jeder Rappen zählt. Wir kämpfen mit der Inflation. Und dann erhöht unser lokaler Strombaron einfach klammheimlich noch zusätzlich die Tarife.»
Die monatlichen Stromrechnungen der Firma zeigen eine versteckte Preiserhöhung von 10,5 Prozent im Monat Januar. Diese Preiserhöhung kommt zusätzlich zum Strompreis dazu, der sich bereits verfünffacht hat per Anfang Jahr.
«Ich war über 20 Jahre lang Kunde dieses hundertprozentigen Staatsbetriebs. Doch jetzt ist genug», sagt der St. Galler Unternehmer. Er will anonym bleiben, weil die SAK viel Einfluss haben.
Das Problem nahm seinen Anfang im Mai vor einem Jahr: Der Ukrainekrieg war soeben ausgebrochen, und der Unternehmer benötigte einen neuen Strom-Dreijahresvertrag. Statt wie bisher 6,6 Rappen waren es nun 33,5 Rappen, die er für die Energie bezahlen muss. «Das ist hart. Aber ich habe mich als Grosskunde für den freien Markt entschieden. Da muss ich solche Nachteile irgendwie verkraften können», sagt er.
Staatsbetrieb wälzt Risiko auf Kunden ab
Trotz Fotovoltaikanlage verbraucht der Unternehmer in seinem Betrieb über 100’000 Kilowattstunden Strom pro Jahr. Deshalb darf er seinen Anbieter frei wählen. «Ich entschied mich erneut für die SAK, weil ich als langjähriger Kunde Vertrauen hatte. Doch über das neue Vertragsmodell klärte mich niemand auf.»
Das neue Vertragsmodell funktioniert wie ein Differenz-Jass: So viel Strom, wie man laut Prognose benötigt, sollte man idealerweise auch verbrauchen. Sonst drohen finanzielle Nachteile aufgrund der aktuellen Preise an der Strombörse. Die Prognose stellen die SAK. Wie hoch sie liegt, haben sie dem Kunden aber nicht mitgeteilt.
Die SAK überwälzen so das volle Risiko auf die Kundschaft. Sie können als Staatsbetrieb ein Geschäft mit sicheren Margen betreiben – obwohl die Preise an den Energiemärkten verrückt spielen.
Drohung mit Anwalt wirkt
In der Theorie sollten die Kosten durch das Risikomodell idealerweise sinken. In der Praxis wurde die Stromrechnung im Januar für den Betrieb aber um 634.20 Franken teurer. Statt 6026.15 Franken musste der Betrieb 6660.35 Franken bezahlen.
Der Unternehmer weiss das aber nur, weil er dem Energiekonzern mit dem Anwalt gedroht hatte. Nach einer Sitzung mit dem zuständigen Abteilungsleiter buchstabierten die SAK zurück, die sich zu 100 Prozent im Besitz der Kantone St. Gallen und den beiden Appenzell befinden. In der Folge erhielt der Unternehmer eine neue Rechnung nach altem Abrechnungsmodell, die das ganze Ausmass der versteckten Preiserhöhung erst zeigte.
Der Vergleich der beiden Abrechnungsmodelle zeigt zwei Probleme: Das neue Modell ist erstens abhängig von der Güte der Prognose. Wenn die schlecht ist, ist das schlecht für den Kunden. Das neue Modell ist zweitens abhängig vom Preis an der Strombörse. Wenn dieser tief ist, ist das ebenfalls schlecht für den Kunden. Beides war beim Kleinbetrieb der Fall. Er verbrauchte weniger Strom als prognostiziert und hatte trotzdem Kosten.
Nie verbrauchte Kilowattstunden kosten
Der Strom für den Betrieb wurde für drei Jahre im Voraus für 33,5 Rappen bestellt. Wenn die monatlich festgelegte Bestellmenge zu hoch ist, müssen die Kilowattstunden an der Börse verkauft werden. Der Preis dafür lag im Januar aber nur noch bei 14,9 Rappen.
Die Folge: Der Betrieb blieb auf Kosten sitzen. Für jede der 3814 eingesparten Kilowattstunden musste er 18,534 Rappen bezahlen. Das ist ungefähr so viel, wie ein Haushalt in einer Vierpersonenwohnung mit Elektroherd für ein ganzes Jahr bezahlen muss. Die beste Kilowattstunde ist im neuen Modell nicht mehr die, die nie verbraucht worden ist. Sondern die, die nie bestellt worden ist.
Weil die SAK den Kleinunternehmer nicht korrekt informiert haben, darf er per Ende Jahr aber bereits aus seinem unvorteilhaften neuen Vertrag aussteigen und sich einen neuen Stromlieferanten suchen. «Und das werde ich auch tun», sagt er.
Experte kritisiert fehlende Sparanreize
Aber machen solche Preismodelle überhaupt Sinn in Zeiten, in denen der Bund zum Stromsparen aufruft? Wir haben die Monatsrechnungen der SAK Walter Sachs vom Verband der unabhängigen Energieerzeuger vorgelegt. Er sagt: «Wenn die SAK für nicht verbrauchten Strom Rechnung stellen, wird das Stromsparen erschwert. Das Beispiel zeigt, dass das ganze Marktsystem schief ist. Wenn der Bund will, dass der Stromverbrauch sinkt, müssen die kleinen wie die grossen Stromkunden unter dem Strich dafür belohnt werden.»
Das Problem: Trotz den Appellen zum Stromsparen gibt es keine gesetzliche Vorgabe, dass Stromsparen finanziell attraktiv sein muss, bestätigt die Eidgenössische Elektrizitätskommission. Im freien Markt gilt das erst recht. «Die Elektrizitätsversorger sind hier relativ frei in der Gestaltung der Tarife – die Verträge werden im gegenseitigen Einvernehmen auf privatrechtlicher Basis ausgehandelt», heisst es bei der Kommission.
Die SAK verteidigen ihr Börsenmodell mit drei Argumenten. Erstens: Man verdiene keinen einzigen Rappen zusätzlich, wenn man den zu viel bestellten Strom an der Strombörse verkaufe. Zweitens: Viele andere Energiekonzerne würden das bei Grosskunden auch so machen. Und drittens: Nur weil der Januar schlecht gewesen sei, müsse nicht das ganze Jahr schlecht sein. Wenn der Preis an der Börse steige, könne das ein Vorteil sein in diesem Modell. Dann würde der nicht bezogene Strom plötzlich wertvoll, und die Kosten würden sinken.
Fragen bleiben unbeantwortet
Die Kritik an ihrem Prognosemodell weisen die SAK zurück. Die Prognose würde aufgrund des Verbrauchs in den Vorjahren erstellt, basierend auf der Erwartung des künftigen Geschäftsverlaufes und normwetterbasiert. Deshalb sei es eine gute Prognose. Doch warum ist im konkreten Fall die matchentscheidende Prognose ohne Wissen des Kunden erstellt worden, der seinen künftigen Geschäftsverlauf ja besser kennt? Dazu sagen die SAK nur: «Hier gab es ein klärendes Gespräch mit dem Kunden.» Auch weitere Fragen beantwortet der Staatskonzern nicht. «Wir kommunizieren keine Interna in der Öffentlichkeit. Der Fall ist mit dem Kunden geklärt.»
Die SAK wollen auch nicht sagen, wie viele Kunden in ähnlicher Weise betroffen sind. Genauso wenig beantworten die St. Gallisch-Appenzellischen Kraftwerke die Frage, ob sie unter dem Strich Mehreinnahmen generieren, wenn sie das ganze Risiko auf die Grosskunden abwälzen.
Klar ist, dass das Abrechnungsmodell der SAK weit verbreitet ist im Geschäft mit Grosskunden. Das sagt René Baggenstos vom Energieberatungsunternehmen Enerprice. «Für Grosskunden funktioniert die Energiebeschaffung heute wie bei einer Hypothek. Sie haben die Wahl zwischen Festpreis oder variablem Preis und können die Laufzeiten staffeln. Alle Varianten haben Vorteile und Nachteile.»
Lage auf Strommarkt entspannt sich erst 2026
Der Marktkenner Baggenstos empfiehlt dem Kunden aus St. Gallen, den Anbieter Ende Jahr zu wechseln. «Es gibt auch Anbieter, die dem Kunden nicht einen Basispreis für gleich drei Jahre vorgeben, sondern das rollend machen, so dass sich der Strompreis aus mehreren, zeitlich verschobenen Beschaffungen zusammensetzt. Das ist viel besser, da der vereinbarte Preis dadurch viel weniger vom Zeitpunkt des Vertragsabschlusses abhängt.»
Baggenstos will für den Strommarkt noch keine Entwarnung geben. Der Spotmarktpreis für Strom könne jederzeit wieder nach oben schnellen. «Wenn in der Ukraine ein Bombe in der Nähe einer der grossen Gasleitungen explodiert, würde der Strom-Spotmarktpreis sofort durch die Decke gehen. Erst 2026, wenn alle Flüssiggas-Terminals in Betrieb sind, wird sich die Lage auf dem Energiemarkt und damit auf dem Strommarkt langfristig entspannen.»