Absturz einer Schweizer Ikone
Wie Ex-Chef Mark Schneider Nestlé aushöhlte

Seit Jahren lebt der Lebensmittelriese von der Substanz. Nun fehlt das Geld für grosse Investitionen. Wie es dazu kam.
Publiziert: 16.11.2024 um 14:15 Uhr
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Aktualisiert: 16.11.2024 um 14:19 Uhr
Zu viel Financial Engeneering: Mark Schneider hat den Aktienkurs mit Schulden gedopt.
Foto: Keystone

Auf einen Blick

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Seraina Gross
Handelszeitung

Bei Nestlé geht es einem zurzeit wie Jim Knopf und Lukas, dem Lokomotivführer, im gleichnamigen Kinderbuch von Michael Ende mit dem Scheinriesen Herrn Tur Tur: Je näher man ihm kommt, desto weniger gross wirkt er.

Der Umsatz: hat in der inzwischen verflossenen Ära von Mark Schneider um gerade mal 3,5 Milliarden Franken zugenommen, von 89,5 auf 93,0 Milliarden Franken. Bei der Marge gab es im vergangenen Jahr bescheidene 0,3 Prozentpunkte mehr als 2016 – und das bei einem weitreichenden Umbau des Portfolios, der eigentlich das Gegenteil bewirken sollte: Premiumisierung, exquisitere Produkte mit hoher Preissetzungsmacht und entsprechend komfortablen Margen. 

Fast doppelt so viel Schulden

Der als nach seiner Landung in Vevey als Überflieger gefeierte Star hinterlässt ein schwieriges Erbe. Das zeigt auch der Blick auf die Bilanz. Der als «bester Manager seiner Generation» («Wirtschaftswoche») gefeierte Deutsche hat 2017 Schulden im Umfang von 28,4 Milliarden Franken von seinem Vorgänger Paul Bulcke übernommen (langfristiges Fremdkapital). Inzwischen steht der Vorzeigekonzern aus Vevey mit 53,1 Milliarden Franken bei seinen Gläubigern in der Kreide. Das entspricht annähernd einer Verdoppelung.

Die Schuldenlast von Nestlé ist beachtlich. Gleichzeitig ist die Eigenkapitalquote auf Tauchgang. In nur acht Jahren sank sie von 50 Prozent auf zuletzt 24,7 Prozent. Mit anderen Worten: Der Konzern lebte von der Substanz

Ausgedünnte Bilanz

Schuld an den Gleichgewichtsstörungen im Balance Sheet sind Aktienrückkaufprogramme, mit denen Schneider die Aktionäre und Aktionärinnen über all die Jahre bei Laune gehalten hat. 50,2 Milliarden Franken warf Nestlé unter Schneider auf, um eigene Aktien zu kaufen und so den Kurs zu treiben. Ein gigantischer Betrag.

Das fetteste Jahr für die Aktionäre und Aktionärinnen war 2022, mit Rückkäufen in zweistelliger Milliardenhöhe (10,7 Milliarden Franken). Auf dem zweiten Platz folgt 2019, mit Rückkäufen von 9,8 Milliarden. Doch auch während der Pandemie liess man sich nicht lumpen. 2020 kaufte man für 6,8 Milliarden Franken Aktien zurück, 2021 im Total 6,5 Milliarden.

Fast 20 Milliarden für Dividenden und Rückkäufe

Im Spitzenjahr 2022 warf der Konzern – Dividenden und Aktienrückkaufprogramme zusammengenommen – 19,7 Milliarden Franken auf, bevor er 2023 auf die Bremse stand, «nur» noch Aktien im Umfang von 5,2 Milliarden Franken zurückkaufte und 8,1 Milliarden Franken an Dividenden ausschüttete.

Dividenden und Aktienrückkaufprogramme zusammengerechnet, wurden die Aktionäre und Aktionärinnen in den sieben Jahren unter Mark Schneider nach Berechnungen der «Handelszeitung» mit 112,7 Milliarden Franken gepampert. Setzt man das in Bezug zum Cashflow, der aus dem Geschäft resultiert (Operating Cashflow minus Investing Cashflow) und 76,4 Milliarden Franken beträgt, so resultiert ein Minus 36,3 Milliarden Franken. Das Unternehmen schüttete also mehr aus, als es einnahm. Das Feuerwerk an der Börse musste zumindest teilweise mit Schulden finanziert werden. 

Und so kommt es, dass das operative Geschäft nicht viel besser dasteht als zu Beginn der Ära Schneider. Dafür sitzt der Konzern auf einem grossen Berg Schulden und einer deutlich schwächeren Bilanz. Ein bitteres Fazit.

Portfolioumbau brachte Umsatzeinbussen

Gewiss, der Portfolioumbau forderte seinen Tribut: Schneider hat im grossen Stil Geschäftsfelder verkauft, und damit gingen Umsätze verloren, die erst einmal kompensiert werden mussten. Mit der Trennung vom Skin-Health-Geschäft Galderma, von jeher ein Fremdkörper im Nestlé-Universum, fielen Umsätze im Umfang von 2,8 Milliarden Franken weg. Dazu kam der Abschied vom Eiscremegeschäft, der deutschen Wurstmarke Herta und dem Wasser- und Süsswarengeschäft in den USA, Geschäftsfeldern, mit denen ebenfalls jeweils ein paar Hundert Millionen, wenn nicht gar 1 Milliarde an Umsatz wegbrachen. 

Und auch das ist richtig: Der Aufbau von neuen Produktlinien wie den veganen Fleischalternativen setzt Investitionen voraus. Dito die vielen Übernahmen, die ebenfalls erst mal ins Geld gingen. Für die Markenrechte von Starbucks liess Schneider 7,1 Milliarden Dollar springen, dazu kommen Lizenzgebühren. Zudem musste die Starbucks-Franchise à la Nestlé zuerst entwickelt und lanciert werden, auch das kostete. Doch in Kombination mit den Aktienrückkaufprogrammen hat die Ära Mark Schneider doch etwas gar tiefe Spuren in der Bilanz hinterlassen.

Klar ist deshalb: In diesem Stil wird es nicht weitergehen. Mit Aktienrückkaufprogrammen dürfte es fürs Erste vorbei sein. Das sieht auch der Aktienmarkt mehrheitlich so. Er gehe nicht davon aus, dass Nestlé ein neues Aktienrückkaufprogramm auflegen werde, sagt Jean-Philippe Bertschy, Nestlé-Analyst bei Vontobel.

Bleibt noch das Tafelsilber: Der L'Oréal-Stake

Es sei denn, der neue Konzernchef Laurent Freixe macht es wie sein Vorgänger und verkauft das Tafelsilber. Will heissen: Teile des Stakes, den Nestlé noch immer an L’Oréal hält. Das Problem hier: Das Timing für einen Verkauf ist denkbar schlecht, denn auch in Paris zeigen die Valoren steil nach unten, die Aktie des französischen Kosmetikkonzerns notiert inzwischen noch bei 70 Prozent des Stands, den sie vor anderthalb Jahren hatten. Zudem: Ob es so rund laufen würde wie beim letzten Mal, als L'Oréal die Aktien gleich selbst zurückkaufte und anschliessend vernichtete, steht in den Sternen. Ansonsten müsste Nestlé die Aktien selbst platzieren, was nochmals auf den Kurs drücken würde. 

Auch mit Blick auf das Geschäft ist die ausgedünnte Bilanz eine Hypothek. Grosse Übernahmen werden vor dieser Kulisse kaum mehr drin liegen. Und auch für die Anstrengung, das Geschäft wieder auf Vordermann zu bringen, wie das nun Laurent Freixe vorhat, ist die schwache Bilanz ein Nachteil. Denn auch das Rückgewinnen von Marktanteilen und die Stärkung von Marken und Märkten erfordern Investitionen, die danach wieder eingespielt werden müssen.

Den «quick fix» gibt es nicht

Zu viel Financial Engineering, eine ausgedünnte Bilanz und ein operatives Geschäft, das unter den Erwartungen bleibt: Nestlé hat einen langen Weg vor sich. Das sehen offenbar auch die Investoren so. Dieser Tage tauchten die Nestlé-Valoren erstmals seit Jahren wieder unter 80 Franken – das sind fast 50 Franken weniger als zu den besten Zeiten unter Schneider. Die Marktkapitalisierung liegt inzwischen bei noch etwas mehr als 200 Milliarden Franken, tiefer als die von Roche. Und die erlebt gerade alles andere als einen Höhenflug.

Mehr dazu, wie der im August vom Nestlé-Verwaltungsrat aus dem Hut gezauberte Laurent Freixe den Konzern aus der Misere führen wird, gibt es nächste Woche am Investorentag in Vevey. Klar ist: Den «quick fix» wird es nicht geben. Stattdessen steht dem Konzern und seinen Eignern und Eignerinnenn ein langer, schmerzhafter Weg bevor. Gefragt ist Geduld, bevor es mit Nestlé wieder aufwärts geht.

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