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475 Gesetzesverstösse in einem Monat allein in der Region Bern
Coop lässt Angestellte zu lange arbeiten

Ein exklusives Dokument zeigt zum ersten Mal: Coop verstösst regelmässig gegen das Arbeitsgesetz. Die Zuwiderhandlungen häufen sich. Angestellte kommen an ihr Limit. Konfrontiert mit den Recherchen, räumt der Detailhändler Fehler ein.
Publiziert: 27.01.2020 um 23:18 Uhr
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Aktualisiert: 29.01.2020 um 12:09 Uhr
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Die Belastung für die Detailhandelsangestellten wächst.
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Marc Iseli

Im Detailhandel nimmt der Druck zu. Die Umsätze im klassischen Handel sinken, die Konkurrenz aus dem Internet wächst. Gleichzeitig reizen die Läden die Möglichkeiten bei den Öffnungszeiten immer mehr aus. Das spüren die Angestellten an der Front. Die Kassiererinnen. Die Metzger. Die Regal-Einräumer. Oder die Angestellten in den Supermarkt-Bäckereien. Am Wochenende berichtete der SonntagsBlick, wie die Verkäuferinnen leiden und die Krise im Detailhandel ausbaden müssen.

Wie gravierend die Situation ist, zeigt nun ein internes Dokument von Coop, das BLICK vorliegt. Es war für die Verkaufsgruppenleiter bestimmt und zeigt detailliert, dass der Detailhändler im Dauer-Clinch mit dem Arbeitsgesetz steht.

Prekäre Lage bei Höchstarbeitszeit pro Woche

Die grössten Probleme gibt es mit der wöchentlichen Höchstarbeitszeit, die je nach Job bei 45 oder 50 Stunden liegt. Ein weiteres Problem besteht darin, dass zwischen Arbeitsbeginn und Arbeitsende oft mehr als 14 Stunden liegen – etwa weil die Mitarbeiter lange Mittagspausen einlegen müssen. Ausserdem werden Ruhezeiten oft nicht eingehalten – ein klarer Regelbruch.

Es ist das erste Mal, dass ein derartiges Dokument an die Öffentlichkeit gelangt. Bislang blieb das Problem unter Verschluss. Nicht einmal die Sozialpartner von Coop haben Kenntnis von derart detaillierten Auswertungen.

Das Dokument listet Hunderte Verstösse gegen das Arbeitsgesetz allein für die Region Bern auf. 475 Verstösse sind dokumentiert für den November. Bei knapp über 4400 Mitarbeitern heisst das: Die Anzahl Verstösse pro Mitarbeiter liegt bei über 10 Prozent. Aufs Jahr hochgerechnet ergeben sich Tausende Verstösse.

Coop bestätigt Echtheit des Dokuments

Das Dokument zeigt klar, dass es in gewissen Monaten zu Spitzenbelastungen kommt. Und dass das Personal knapp geplant ist. Die grösste Belastung ergibt sich im Dezember und im August. In der Vorweihnachtszeit müssen die Angestellten Extra-Schichten schieben, weil die Kunden in die Supermärkte stürmen. Im Sommer dagegen sind zahlreiche Mitarbeiter in den Ferien, die Verbleibenden müssen zusätzliche Dienste übernehmen.

Beide Situationen sorgen dafür, dass die Grenzen des Arbeitsgesetzes dann besonders oft überschritten werden.

Sprich: Coop schiebt das Risiko saisonaler Schwankungen bei der Beschaffung und im Verkauf auf das Personal ab.

Coop bestätigt die Echtheit der Angaben gegenüber BLICK. Coop sagt auch: Bern sei kein Ausreisser. «In anderen Regionen verhält es sich ähnlich», so Sprecherin Andrea Bergmann.

Konfrontiert mit den Recherchen, sucht Coop-Personalchef Luc Pillard (45) das Gespräch mit BLICK. Wie Sprecherin Bergmann versichert er, dass sich Coop darum kümmere, die Verstösse auf einem Minimum zu halten.

Mitarbeiter haben Angst und klagen Coop an

Ganz vermeiden, so betonen beide, lasse sich das Problem nicht. Der Detailhändler werde ausserdem von den kantonalen Arbeitsinspektoraten kontrolliert. Laut den Coop-Verantwortlichen habe das Unternehmen in den letzten Jahren weder einen Verweis noch eine Busse kassiert – ein Hinweis darauf, dass es keine systematischen Verstösse gebe.

Dennoch weckt die gegenwärtige Situation Erinnerungen an Coops Arbeitszeitdebakel im Jahr 2014. Aufgrund «Kassensturz»-Recherchen und mehreren Berichten im Schweizer Fernsehen musste der Detailhändler Verstösse auch gegen den Gesamtarbeitsvertrag einräumen.

Die Belastung bringt auch heute viele Angestellte ans Limit. Ein langjähriger Coop-Mitarbeiter berichtet BLICK von «ausgelaugten» Mitarbeitern. Sie hätten Angst, «mit den Chefs zu sprechen». «Auch die Geschäftsführer laufen am Anschlag und leisten Unmenschliches mit horrenden Einsatzzeiten», so der Coop-Angestellte, der anonym bleiben möchte, weil er um seine Stelle fürchtet.

Schwierigkeiten bei kurzfristigen Einsätzen

«Die Aussagen machen uns betroffen», sagt Coop-Sprecherin Bergmann. «Wir unternehmen sehr viel für eine gute Einsatzplanung unserer Mitarbeitenden.» Das würden auch die Zahlen aus dem Dokument zeigen, sagt sie. Bei elf Personen pro Tag kam es zu einer Verletzung des Arbeitsrechts. Das sei «ein sehr tiefer Wert, den wir noch weiter verbessern wollen», so Bergmann.

Die Coop-Sprecherin gibt an, dass die Einsätze der Mitarbeitenden so geplant würden, dass die Regeln des Arbeitsgesetzes eingehalten werden. Die Personalabteilung wache über die Einhaltung der Vorschriften in der Planungsphase.

In der Praxis aber gebe es immer wieder unvorhergesehene Situationen. «Zum Beispiel, wenn ein Mitarbeitender krank wird oder das kranke Kind betreut werden muss und ein Kollege bei der Arbeit einspringt», so Bergmann. Das führe zu kurzfristigen Neuplanungen – und zu den zahlreichen Verstössen. Die Angestellten würden plötzlich länger arbeiten. Oder früher starten. Oder andere Schichten übernehmen.

Lage im Detailhandel immer prekärer

Gewerkschafter sehen die Situation anders. Für sie ist das Dokument ein weiterer Beweis dafür, dass die Situation im Detailhandel immer prekärer wird. Dass die Mitarbeitenden die Leidtragenden sind, während die Händler gute Zahlen melden. Die Kassiererinnen hätten Angst um ihren Job. Sie könnten sich kaum ohne gewerkschaftliche Unterstützung gegen regelwidrige Einsatzpläne wehren.

Arnaud Bouverat (40) von der Unia kündigt deshalb an, dass er die Problematik beim nächsten Treffen mit Coop traktandieren wolle. Die Einhaltung des Arbeitsgesetzes soll, so Bouverat weiter, ausserdem ein Schwerpunkt bei den Verhandlungen über einen neuen Gesamtarbeitsvertrag sein. Diese stehen im nächsten Jahr an.

Arbeitsgesetz: Kassensturz machte 2014 Coop-Verstösse publik

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