Wir begegnen ihnen jeden Tag, aber die wenigsten wissen etwas von ihnen: den Menschen, die im Verkauf arbeiten.
300'000 sind es in der Schweiz, zwei Drittel von ihnen Frauen. Sie chrampfen in einer Branche, die tief in der Krise steckt. Onlinekonkurrenz, Einkaufstourismus und hohe Mieten setzen den Schweizer Detailhandel unter Druck. Während die Kunden davon nichts spüren, sind es die Verkäuferinnen, die die Krise ausbaden: Sie kämpfen jeden Tag mit Diskriminierung, Beleidigungen, Stress und viel zu tiefen Löhnen.
«Jeder dritte Kunde ist respektlos», sagt Sina Leiser*. Die 23-jährige Verkäuferin arbeitet im Teilzeitpensum bei einem Grossverteiler: «Täglich kommen Kunden ins Geschäft, die uns beleidigen.» Jüngst habe ihr eine ungeduldige Frau erklärt, sie sei «eine wahnsinnig dumme Kuh», weil bei ihr eine Stichprobe durchgeführt werden musste. Und ein Kunde sei komplett ausgerastet, weil der Self-Check nicht funktionierte. «Er wurde so aggressiv, dass wir Angst vor ihm hatten.»
Tränen bei den Kassiererinnen
Auch sexuelle Belästigung hat Leiser schon erlebt. Ein Mann sagte ihr ins Gesicht: «Der Einkauf ist schon sehr teuer, wenn ich nicht mal eine hübsche Frau dazu bekomme.» Sogar körperlichen Übergriffe habe es gegeben, sagt die Verkäuferin. «Ein Kunde verlor komplett die Fassung und hat eine Mitarbeiterin an den Handgelenken gepackt.»
Die Erniedrigungen gehen häufig so weit, dass bei den Kassiererinnen Tränen fliessen. «Auch ich habe schon geweint, weil ich so heruntergeputzt wurde.» Viele Verkäuferinnen leiden stark darunter, sagt Leiser, dass sie in der Gesellschaft überhaupt nicht wertgeschätzt würden. «Eigentlich müssten sich Verkäuferinnen einen Psychologen leisten können, weil es so belastend ist, was wir immer wieder erleben.»
Was Sina Leiser während ihrer Arbeit beim Grossverteiler durchmacht, gehört für viele Verkäuferinnen zum Alltag. Das zeigt eine neue Studie der Universität Bern, deren Ergebnisse in einem Buch von Elisabeth Joris und Rita Schmid veröffentlicht wurden: «Damit der Laden läuft». Die Daten zeigen: Das Verkaufspersonal in der Schweiz muss sich immer wieder Respektlosigkeiten gefallen lassen – von der Beschimpfung bis zur Ohrfeige. Manche Kunden lassen sogar Fäkalien oder gebrauchte Tampons in der Umkleidekabine zurück.
Sexuelle Anspielungen
Nadja A.** (27), die als Kioskverkäuferin tätig war, machte ähnliche Erfahrungen. «Was wirklich wehtut, sind die vielen Kunden, die durch dich hindurchschauen», sagt sie. «Sie kommen mit dem Handy am Ohr rein, zischen dich kurz an, ohne dir ins Gesicht zu schauen, werfen das Münz hin und gehen.»
Aber warum verhalten sich Kunden so? «Wir sind eine Klassengesellschaft», sagt Nadja A. «Und als Kioskfrau bin ich ein Mensch zweiter Klasse.» Auch sie hat unappetitliche Begegnungen ertragen müssen. «Als mich ein älterer Herr mit sexuellen Anspielungen eindeckte, fühlte ich mich eindeutig belästigt.»
Besonders tragisch: Auf den Schutz der Vorgesetzten können Verkäuferinnen in solchen Situationen nicht zählen. Auch dies belegt die Berner Studie. «Der Kunde ist halt König», sagt Sina Leiser. «Wir haben generell den Auftrag, immer zu lächeln und freundlich zu sein, auch wenn wir schlecht behandelt werden.»
Sogenannte Personaloptimierung
Sie berichtet von Stress und Reibereien, hervorgerufen durch organisatorische Mängel. Wenn an der Kasse zu viele Angestellte sind, seien es im Rayon oder beim Self-Check-out zu wenige – und umgekehrt. Die Folge: verärgerte Kunden, die ihren Frust an den Angestellten auslassen. «Dabei können wir für die ganze Situation nicht das Geringste», sagt Leiser. «Das sind schlimme Stressmomente.»
Dahinter steckt ein strukturelles Problem: Ausländische Konkurrenz, Onlinehandel und Preisdruck setzen den Detailhandelsunternehmen in der Schweiz zu. Sie reagieren mit der sogenannten Personaloptimierung, also höheren Anforderungen an die Produktivität der Angestellten, verlängerten Ladenöffnungszeiten und intensiverer Kundenbetreuung. Mit anderen Worten: Sie geben den Druck an die Verkäuferinnen weiter. Die finanzielle Entschädigung für diese Strapazen bewegt sich am unteren Limit. Der mittlere monatliche Bruttolohn im Einzelhandel liegt bei 4761 Franken – deutlich unter dem Lohnniveau in anderen Sektoren. Frauen verdienen häufig noch weniger.
«Die Bezahlung ist wirklich mies», sagt Kioskverkäuferin Nadja A. «Ich habe für 20 Franken pro Stunde geschuftet.» In allen Kompetenzen, beruflichen Stellungen und Bildungsniveaus verdienen Frauen im Detailhandel durchschnittlich, teilweise sogar massiv weniger als ihre männlichen Arbeitskollegen. Eine Verkäuferin verdient gerade einmal halb so viel wie ihre Durchschnittskunden. «Die Löhne in der Branche reichen kaum zum Leben», bestätigt Leena Schmitter von der Gewerkschaft Unia. «Es braucht eine Korrektur der Lohndiskriminierung.»
Angst vor Kündigung
Aber warum wehren sich die Verkäuferinnen nicht? «Vielen mangelt es an Selbstbewusstsein», sagt Sina Leiser. «Und weil wir Einzelkämpferinnen sind, gibt es auch keine Solidarität.» Nur jede zehnte Angestellte im Detailhandel ist Mitglied in einer Gewerkschaft. Die Angst vor Kündigung spielt eine wichtige Rolle.
Gemäss der Berner Studie gibt es Unternehmen, die ihre Angestellten explizit davor warnen, Informationen an Gewerkschaften weiterzugeben. Andere Betriebe untersagen ihren Angestellten grundsätzlich, Gespräche mit solchen Organisationen zu führen.
Die Detailhändler lassen die Vorwürfe nicht auf sich sitzen. Coop teilt mit, eigens durchgeführte Mitarbeiterumfragen zeigten ein anderes Bild als jenes der Berner Studie. Zudem habe man die Löhne in den letzten zehn Jahren um mehr als zehn Prozent erhöht. Auch die Migros bezeichnet sich selbst als sehr attraktive Arbeitgeberin: «Bei uns herrscht Lohngleichheit und viele Anstellungsbedingungen gehen über das gesetzliche Minimum hinaus. Bei Belästigung herrscht Nulltoleranz.»
Bei Valora «sollen die Mitarbeitenden von verantwortungsvollen Arbeitsbedingungen und branchenüblichen Löhnen profitieren». Und H&M zahle zu 100 Prozent gleichwertige Löhne. Man lebe eine offene Feedbackkultur und toleriere Beleidigungen von Mitarbeitenden nicht, heisst es unisono.
Liebe Leserinnen und Leser, was ist ihre Erfahrung im Detailhandel – sei es als Kundin oder Kunde bzw. Verkäuferin oder Verkäufer? Schreiben Sie uns unten in den Kommentaren oder an community@blick.ch
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