Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
Die Immobilienfirmen haben zu viel Macht

Wohnen ist das volle Leben. Trotzdem ist wohnen hierzulande Glücksache. Nicht selten ist es einfach Pech. Warum interessiert das eigentlich so wenig?
Publiziert: 11.01.2020 um 22:20 Uhr
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Aktualisiert: 25.01.2020 um 23:46 Uhr
Giery Cavelty, Chefredaktor SonntagsBlick.
Foto: Paul Seewer

Dr. Friedrich Wilhelm Ost war entsetzt. Der Berner Polizeiarzt hatte die Wohnsituation der Arbeiterfami­lien in der Bundesstadt untersucht. Seine Erkenntnisse präsentierte er im August 1897 der Öffentlichkeit. Dr. Ost berichtete von rauchgeschwärzten Wänden, überfüllten Betten, stinkenden Abtritten.

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Am meisten Anstoss nahm der Mediziner an den «Schlafgängern», wie man Untermieter damals nannte. «Wenn ein männliches Familienhaupt zugegen ist, so werden sich Ausschreitungen wohl vermeiden lassen. Wenn aber, wie dies häufig zutrifft, ledige oder verwitwete Frauenspersonen männliche Schlafgänger beherbergen oder gar männliche und weibliche Personen zu Mietern haben, so ist die Sache bedenklich.»

Sogenannte Sozialhygieniker wie Dr. Ost wollten den Arbeitern zu einem gesunden Leben verhelfen – wobei dem Begriff «gesund» auch eine starke moralische Komponente innewohnte. 1911 rief Ost die Gemeinnützige Baugenossenschaft Bern ins Leben, in anderen Städten kam es zu ähnlichen Gründungen.

Es waren diese Wohnreformer, welche die abgeschlossene Wohnung überhaupt erst zum Normalfall machten. Elternschlafzimmer, Kinderschlafzimmer, Wohnzimmer, Küche. Kein Durcheinander, keine Schlafgänger. Stattdessen ein Heim fürs Familienoberhaupt, seine Hausfrau und die beiden Kinder.

Wohnen heisst Leben. Wohnungsbau heisst Macht über das Leben. Die Wohnreformer des frühen 20. Jahrhunderts haben das Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie in unseren Köpfen zementiert.

Umso erstaunlicher, dass sich heute kaum mehr jemand dieses Themas annimmt. Aus Sicht der Mieter ist Wohnen reine Glückssache. Nicht selten ist es Pech. Die meisten sind auf die Gunst gewinnorientierter Immobilienbesitzer angewiesen, die für möglichst wenig Geld Standardgebäude hochziehen und den überhöhten Preis für eine Wohnung dann bestenfalls mit einem Doppelkühlschrank inklusive Eismaschine rechtfertigen.

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Architekturstudenten lernen viel über Stadtplanung und Repräsentationsbauten. Umso brutaler ist nach dem Studium der Realitätsschock mit Fertigbauteilen und Generalunternehmern, die gnadenlos die eigene Marge optimieren.

Noch ärger ist es um die Ökonomen bestellt. Die Branche «Grundstücks- und Wohnungswesen» erwirtschaftet acht Prozent des Bruttoinlandprodukts. Der aus dem Griechischen stammende Begriff «Ökonomie» bedeutet wörtlich «Gesetz des Hauses». Und doch unterhalten unsere Universitäten keine einzige Professur für Wohnungswirtschaft.

Ohne unabhängige Forschung, ohne belastbare Kennziffern und Erkenntnisse aber gibt es keine informierte Debatte über das Wohnungswesen. Wenn wir aktuell über die Volksinitiative «Mehr bezahlbare Wohnungen» diskutieren, geschieht dies zur Hauptsache auf der Basis von Angaben der Immobilienfirmen. Für einen so lebenswichtigen Bereich wie das Wohnen reicht das nicht.

Gewiss: Zustände, wie sie der Polizeiarzt Dr. Friedrich Wilhelm Ost einst angetroffen hat, kann man sich heute selbst mit blühendster Fantasie nicht vorstellen. Und doch ist die Frage nach wie vor ungelöst: Wie gelingt es, alle Menschen in der Schweiz mit erschwinglichem und gleichwohl gutem Wohnraum zu versorgen?

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