Sie gewann sechs Mal den Ironman Hawaii
Triathlon-Legende Badmann über ihr bewegtes Leben

Die unglaubliche Lebensgeschichte von Natascha Badmann: Vom traurigen, übergewichtigen Kind zur umjubelten Sportlerin.
Publiziert: 15.05.2024 um 00:05 Uhr
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Aktualisiert: 15.05.2024 um 10:25 Uhr
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So kennt man Natascha Badmann: Mit einem Lächeln im Gesicht ins Ziel kommend.
Foto: Keystone
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Daniel LeuStv. Sportchef

Mit einem Lächeln im Gesicht die Ziellinie überquerend: So kennt man Natascha Badmann. Doch der heute 57-Jährigen war nicht immer zum Lachen zumute. In ihrer Kindheit hatte sie viele Krisen zu überwinden, und mit 17 wurde sie alleinerziehende Mutter. 

Warum sie mit Blick über das spricht? Weil diese Ereignisse sie zu dem gemacht haben, was sie wurde: zur erfolgreichen Spitzensportlerin und charismatischen Persönlichkeit. Während des Gesprächs mit am Tisch in Ihrem Zuhause im Aargau: Toni Hasler, ihr Anker, Trainer und Lebenspartner. 

Frau Badmann, sind Sie glücklich?
Natascha Badmann: Ja! Ich bin heute vor allem zufrieden mit mir und meinem Leben. Das war nicht immer so. Als Jugendliche trug ich eine unbeschreiblich tiefe Trauer in mir. Darüber reden konnte ich viele Jahre nicht.

Sie wuchsen mit Ihrer Mutter und Ihrem Stiefvater auf. Wann lernten Sie Ihren leiblichen Vater kennen?
Das war voll komisch. Ich wusste lange nicht, dass mein Stiefvater gar nicht mein leiblicher Vater ist. Als ich etwa zwölf war, stand ein für mich fremder Mann vor der Tür. Da sagte meine Mutter: «Das ist übrigens dein Vater. Er isst heute bei uns zu Abend.» Das war schon eine sehr verwirrende Situation für mich. Heute weiss ich, dass mir als Kind vor allem die Liebe gefehlt hatte.

Sie haben vorhin von einer «unbeschreiblich tiefen Trauer» gesprochen. Hatten Sie damals Selbstmordgedanken?
Ja, ich wollte nicht mehr leben. Mein Stiefvater hat mich in vielen Hinsichten ausgebeutet.

Was gab Ihnen in der Zeit Kraft?
Mein Pferd Poly. Mit ihm habe ich meine Trauer und meine Schokolade geteilt. Das war mein Ausweichmanöver. Ich genoss es, bei ihm in dieser vertrauten, liebevollen Umgebung zu sein.

Die Schokolade ... Sie waren damals stark übergewichtig.
Das Essen war eine Art des Ausweichens und des Ablenkens. Ich war die Dickste und Unsportlichste in der Familie. In der Schule wurde ich von den Teams im Turnunterricht immer als Letzte ausgewählt. Hätte man damals meinem Turnlehrer gesagt, aus mir würde einst eine Spitzensportlerin, hätte er das nicht für möglich gehalten.

Mit 16 wurden Sie schwanger. Warum so früh?
Als Kind dachte ich immer: Irgendwann kommt ein Ritter auf einem weissen Ross und rettet mich. Als ich meinen damaligen Freund kennenlernte, war er meine Hoffnung auf ein besseres Leben. Doch als diese vermeintlich grosse Liebe schon während der Schwangerschaft zu Ende ging, brach eine Welt zusammen. Das war natürlich keine ideale Voraussetzung für eine gute Beziehung zwischen mir und meinem Baby, und ich fragte mich schon, warum ich eigentlich noch weiterleben sollte. 

Waren Sie eine gute Mutter?
Nein, ich war überfordert mit der Situation. Ich habe mein Kind Anastasia eine Zeitlang fast abgelehnt.

Das ist eine brutale Aussage!
Das klingt schlimm. Ich habe das später auch oft mit Anastasia besprochen. Doch ich war einfach zu jung, um eine gute Mutter zu sein.

Persönlich

Die gebürtige Baslerin zählt zu den erfolgreichsten Triathletinnen aller Zeiten. Sechsmal gewann sie den Ironman Hawaii und zweimal die Langdistanz-WM im Duathlon. 1998 und 2002 wurde sie zur Schweizer Sportlerin des Jahres gewählt. Gemeinsam mit ihrem Partner Toni Hasler bietet sie Trainingslager an. Ausserdem hält sie Referate und Seminare. Sie lebt mit Hasler in Oftringen AG.

Die gebürtige Baslerin zählt zu den erfolgreichsten Triathletinnen aller Zeiten. Sechsmal gewann sie den Ironman Hawaii und zweimal die Langdistanz-WM im Duathlon. 1998 und 2002 wurde sie zur Schweizer Sportlerin des Jahres gewählt. Gemeinsam mit ihrem Partner Toni Hasler bietet sie Trainingslager an. Ausserdem hält sie Referate und Seminare. Sie lebt mit Hasler in Oftringen AG.

Sie reden hier sehr offen über persönliche Dinge. Wie viel Mut braucht es, darüber zu reden?
Mut nicht, aber ich wusste selbst lange nicht, warum ich diese tiefe Trauer in mir trage, und konnte jahrelang mit niemandem darüber reden. Erst als ich Toni kennenlernte, änderte sich das. Er war und ist so feinfühlig. Da konnte ich mich ihm gegenüber öffnen.

Wären Sie ohne Ihre schwierige Kindheit auch zur Spitzensportlerin gereift?
Das weiss ich nicht. Als Kind habe ich von meiner Mutter jeden Tag gehört, der «willi» und «wotti» seien gestorben. Ich durfte diese Wörter nicht sagen. Sie wollte das nicht. Deshalb habe ich heute noch Mühe, zu merken, was ich will, und meinen Willen kundzutun. Vielleicht bin ich auch deshalb im Sport gelandet. Dort konnte ich eigene Entscheidungen fällen. Und endlich sagen «das willi» oder «das wotti». Meiner Meinung nach hat alles im Leben zwei Seiten. Ich habe mich oft gefragt, warum ich mich später nach Siegen so extrem gefreut habe. Heute bin ich davon überzeugt, dass das daran lag, dass ich als Kind unglücklich war.

Der Wendepunkt in Ihrem Leben kam 1987. Da lernten Sie Toni kennen.
Es war an einer Computermesse. Wir arbeiteten für die gleiche Firma, ich während eines Ferienjobs als Assistentin und er als Leiter der Software-Abteilung. Ich dachte gleich: Wow, das ist ein toller Mann! Doch er war verheiratet. Ein Jahr später sah ich ihn wieder. Ich fragte ihn, ob er mit mir zum Tanzen komme. Doch er sagte Nein.
Toni Hasler: Ich dachte mir damals: keine Liebe im Betriebe.

Wie gings weiter?
Ich lernte Toni immer besser kennen, aber wir waren immer noch per Sie. Während einer Kaffeepause sagte ich ihm mal, ich sei unglücklich und zu dick. Da sagte er mir: «Essen Sie zuerst einmal richtig und gesund, und dann machen Sie Sport.»
Hasler: Ich ging über Mittag oft schwimmen. Eines Tages kam sie mit. Nach etwa 15 Minuten kam der Bademeister zu mir und sagte: «Herr Hasler, sie muss aufhören, sie trinkt das ganze Wasserbecken leer.»

Auch das mit dem Radfahren soll nicht Liebe auf den ersten Blick gewesen sein.
Ich konnte zu Beginn während des Fahrens weder trinken noch schalten, sonst wäre ich gleich gestürzt. Ich habe mich einfach nicht getraut, den Lenker loszulassen.

Warum haben Sie trotzdem nicht aufgegeben?
Das ist das Schöne am Sport. Ich wurde mit jedem Training ein bisschen besser und erhielt dadurch mehr Selbstvertrauen und eine Perspektive. Deshalb blieb ich dran und wollte vorwärtskommen.

Später hiess es regelmässig, Sie seien fremdbestimmt und Toni hörig.
Das ist überhaupt nicht so. Wir zwei sind eine Firma, er ist der Chef Entwicklung und ich die Chefin Produktion. Ohne ihn hätte ich das alles gar nicht machen können. Wir haben uns sehr gut ergänzt. Auch ein Roger Federer machte nicht alles alleine. Es ist aber definitiv nicht so, wie es oft dargestellt wurde. Er hat nie bestimmt, was ich machen muss.

Gab es nie Reibereien zwischen Ihnen?
Natürlich gab es die. In manchen Situationen hätte ich ihm gerne ein Flugticket auf den Mond geschenkt. Wir haben aber im Lauf der Jahre gelernt, Privates und Sportliches zu trennen. Im Training war er nie «Schatzi», sondern «Toni».

Welchen Anteil hat er an Ihren Erfolgen?
Einen grossen. Er war ein Pionier und hat Methoden entwickelt, die damals von allen belächelt wurden. Heute sind sie Standard.
Hasler: Als ich die Triathlon-Nationalmannschaft coachte, führte ich das Mentaltraining ein. Das war etwas völlig Neues. Da hiess es, ich sei ein Esoteriker. Doch ich wusste schon damals: Der Kopf ist matchentscheidend. Das sah man später bei Natascha, denn sie war die koordinativ untalentierteste Athletin, die ich je hatte.
Badmann: Das stimmt, ich war nie die Athletin mit den meisten Muskeln, doch ich hatte den stärksten Kopf.
Hasler: Sie ist ein Mensch, der den Fokus hat und die Gabe besitzt, den Rest auszublenden. Das hängt mit deiner Kindheit zusammen. Du hast damals gelernt, gleichzeitig zwei Leben zu führen und Schlechtes auszublenden. Diese Fähigkeit nahm sie mit in den Spitzensport und machte sie zu dem, was sie wurde.

1995 kündigten Sie Ihre Halbtagsstelle und wurden mit 29 Jahren Vollprofi. Wie viel Mut brauchte diese Entscheidung?
In den Jahren zuvor merkte ich, wie glücklich mich der Sport macht und welches Niveau ich trotz meines Jobs erreicht hatte. Irgendwann sagte ich mir: Ich habe nur 100 Prozent Energie und nur ein Leben. Deshalb wagte ich diesen mutigen Schritt. Ich habe ihn bis heute nie bereut.

1996 nahmen Sie das erste Mal am Ironman Hawaii teil. Sie wurden auf Anhieb Zweite, mussten aber Lehrgeld bezahlen.
Die grosse Widersacherin war damals Paula Newby-Fraser. Sie war die Königin. Bei einem Verpflegungsstand trank sie etwas und warf anschliessend alle anderen Getränke zu Boden, damit ich nichts mehr davon abkriegte.

Was lernten Sie daraus?
Dass ich beim nächsten Mal als Erste zum Wasserstand komme.

Das gelang Ihnen. Sie siegten sechs Mal auf Hawaii. Zuletzt 2005, als Sie den Wettkampf durch die Augen eines Wolfs bestritten haben. Wie geht das?
In Hawaii war es immer wichtig, mental stark zu sein. Im Vorfeld überlegten wir uns: Welches Tier symbolisiert Kraft und Ausdauer? Der Wolf passte perfekt. Er ist vielleicht nicht der Schnellste, aber wenn er Hunger hat, dann erwischt er das Reh trotzdem.

Ihr Rufname lautet Mona Lisa, weil Sie immer lächelnd die Ziellinie überquerten. War das Berechnung?
Nein, das waren immer echte Emotionen.
Toni Hasler: Auch das hängt mit ihrer Kindheit zusammen. Wenn du ins Ziel kommst, wird dir applaudiert. Das ist wie Liebe. Für eine Person, die in der Jugend das nie bekommen hat, ist das eine Riesensache. Lob ist Liebe. Und wir alle sind sehr empfänglich dafür.

Das klingt jetzt alles sehr schön. Aber der Ironman ist etwas vom Härtesten, das es gibt. Ihnen sollen jeweils sogar die Zehennägel ausgefallen sein.
Das stimmt. Durch die Hitze und das Runterlaufen gibt es Druck auf die Zehen. Dadurch entstehen unter den Nägeln Blattern. Wenn dann die Nägel ausfallen, tut das saumässig weh. Ich kämpfe noch heute mit den Folgen davon.

Sie haben mal gesagt: «Beim Ironman geht es um die letzten 400 Meter.» Wie meinten Sie das?
Diese 400 Meter kann man sich nicht kaufen. Sie lösen Emotionen aus, die du zuvor nicht gekannt hast. Es ist ein Gefühl, das du für den Rest deines Lebens behältst und das du dir nur selber erarbeiten kannst.

2007 stürzten Sie auf Hawaii schwer. Ein Motorradfahrer hatte Ihnen den Weg abgeschnitten. Trotzdem setzten Sie zuerst das Rennen fort.
Hawaii gibt es nur einmal pro Jahr. Man arbeitet zwölf Monate lang darauf hin. Als ich stürzte, meinte ein herbeigeeilter Arzt, ich hätte das Schlüsselbein gebrochen. Kurze Zeit später fuhr einer im Rollstuhl vorbei. Da sagte ich mir: Hey Natascha, du Memme, fahr weiter. Ich dachte, damit kann ich doch zu Ende fahren, denn das war immer das Wichtigste. Ich kam nie nach Hawaii, um zu gewinnen, sondern um zu finishen.

Das war gefährlich.
Ja, ich konnte nur noch geradeausfahren. Nach etwa 60 Kilometern auf dem Rad erreichte ich Toni. Er überzeugte mich, aufzugeben, denn ein weiterer Sturz wäre sonst wohl unvermeidbar gewesen. Er lupfte mich vom Velo, und ich schrie vor Schmerz. 

Beim Unfall zogen Sie sich eine komplexe Schulterverletzung zu.
Es waren in einer Schulter gleich fünf verschiedene Verletzungen. Als ich in die Schweiz zurückgekehrt war, sagte der Arzt, dass er so etwas Komplexes noch nie gesehen hätte.

Was antworteten Sie ihm?
Dass ich demnach zu einem Arzt gehen werde, der so etwas schon mal gesehen hat. Doch er meinte nur: «So etwas hat noch nie jemand operiert.» Deshalb fragte ich ihn: «Trauen Sie sich diese OP zu?» Er meinte, dass er es gerne versuchen könne, ich aber froh sein müsse, wenn ich später mal wieder ein Kilogramm Zucker im Schrank versorgen könne. Als ich nach der OP aus der Narkose erwachte und merkte, wie gehandicapt ich war, musste ich zuerst einmal heulen. Doch dann sagte ich mir: Du kannst jetzt im Selbstmitleid baden oder kämpfen. Ich begann dann, in meinem Kopf zu schwimmen und mich rein gedanklich zu verbessern, weil das früher immer meine Schwachstelle gewesen war.

Auch nach diesem schweren Unfall kämpften Sie sich wieder zurück. Mittlerweile sind Sie 57. Sind Sie noch aktiv?
Ich hatte mal wieder eine komplizierte Schulterverletzung, weil ich beim Joggen über eine Wurzel gestolpert bin. Wettkämpfe kann ich zurzeit noch keine machen, aber ich trainiere schon wieder fleissig.

Machen Sie sich Gedanken übers Älterwerden?
Vor ein paar Jahren hätte ich noch Nein gesagt, aber mittlerweile ist das ein Thema. Vor allem während Corona hatte ich viel Zeit, um nachzudenken. Ein Problem mit dem Älterwerden habe ich nicht, aber ich bin mir mittlerweile bewusst, dass die Zeit nicht unendlich ist.

Wir haben zu Beginn des Gesprächs über Ihre traurige Seite gesprochen. Kommt diese auch heute noch gelegentlich zum Vorschein?
Ja, ich habe immer noch Unverarbeitetes in mir. Das wird eine Lebensaufgabe von mir sein. Es ist wie bei einer Narbe. Ein Schönheitschirurg kann dir zwar helfen, sie ist aber trotzdem immer noch da.

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