Egal, wie der Kracher-Halbfinal in Paris zwischen Jannik Sinner (22) und Carlos Alcaraz (21) am Freitag ausgehen wird: Italien hat bereits, was es sich von diesen French Open so sehnlichst erhoffte. Nachdem Novak Djokovic (37) verletzungsbedingt Forfait geben musste, hat das Land mit Sinner erstmals überhaupt eine Weltnummer eins im Tennis.
Als klar wird, dass der Südtiroler Rotschopf am kommenden Montag erstmals den ATP-Thron besteigen wird, überbieten sich Italiens Zeitungen mit Superlativen und Frontseiten-Würdigungen. In Turin wird Sinner gar auf die Kuppel der Mole Antonelliana, dem Wahrzeichen der Stadt, projiziert. Und dann stürmt tags darauf auch noch die von der «Gazzetta dello Sport» als «Gigantin» bezeichnete Jasmine Paolini (28) in den Halbfinal. Ein Dreisatz-Sieg gegen Mitfavoritin Elena Rybakina (24) – und die nur 1,63 Meter kleine Toskanerin ist plötzlich ganz gross.
Paolini schafft es sogar, ins Endspiel vom Samstag vorzustossen, wo sie auf Titelverteidigerin Iga Swiatek (23) trifft. Sie lässt Mirra Andrejewa (17) im Halbfinal keine Chance.
Golubic hat Paolinis Potenzial früh entdeckt
Italiens Tennis-Aufschwung hat sich abgezeichnet. Sinners starker letzter Herbst mit den Turniersiegen in Peking und Wien sowie dem Davis-Cup-Titel hat bereits eine Welle der Begeisterung ausgelöst – in einem Land, in dem ansonsten der «Calcio» regiert. Tennisschulen von Bozen bis Palermo berichteten daraufhin von einem enormen Nachwuchs-Boom, dem man infrastrukturell teilweise gar nicht mehr nachkommen konnte.
Der Fussball? Er sei zwar immer noch König, sagt Piero Guerrini, Tennisexperte bei «Tuttosport». Doch andere traditionell stark verankerte Sportarten wie Motorrad, Formel 1, Rad oder Basketball könnten mittlerweile einpacken: «Tennis kommt jetzt direkt nach dem Calcio.»
Das hat natürlich mit Exploits zu tun, wie jenem von Spätzünderin Paolini, die am Montag als Endzwanzigerin erstmals den Sprung in die Top 10 schaffen wird. Ein Coup, den ihr Viktorija Golubic (31) schon lange zugetraut hat, wie die aktuell bestklassierte Schweizerin (WTA 76) sagt: «Schon als sie mehrere Jahre um Platz 50 klassiert war, hat man bei ihr gesehen: Da könnte noch ein Schub kommen.»
Der nette Gucci-Posterboy von nebenan
Vor allem aber ist Italiens Aufstieg mit dem Namen von Jannik Sinner verknüpft. «Ihn mögen die Leute einfach. Er wirkt so normal, so gut erzogen, selbst beim Jubeln hebt er nicht ab. Seine Eltern arbeiteten in der Talschlusshütte im Fischleintal, sie sind ehrliche Arbeiter. Auch Jannik tickt so», sagt Guerrini.
Gleichzeitig ist Sinners Werdegang auch die Geschichte einer geschickt eingefädelten Marketingkampagne. Als der 1,88-Meter-Schlaks im Begriff war, sich auf der ATP-Tour nach oben zu arbeiten, schlugen die grossen Firmen Italiens sofort zu. Es hagelte Partner-Verträge mit Gucci, Alfa Romeo, Fastweb, Lavazza oder Parmigiano Reggiano. Nebst seinen Kooperationen mit Rolex, Nike und Head, versteht sich.
Lavazza schnappte sich gar Sinners Fanklub, die «Carota Boys», die sich gründeten, nachdem Sinner einst beim Turnier in Wien mal eine Karotte während eines Spiels verspeiste. Die kreative, orangene Truppe ist mittlerweile weltberühmt und ebenfalls vom Kaffeelieferanten gesponsert.
Als Sinner Anfang Jahr in Australien zum ersten männlichen Grand-Slam-Sieger Italiens seit Adriano Panatta (1976 in Roland Garros) wurde, posierte er hinterher im schicken Gucci-Jäckchen mit der Trophäe. Und schon davor war er in Wimbledon mit der Gucci-Tasche aufgekreuzt. «Das war ein absoluter Marketing-Geniestreich», sagt Guerrini, der anfügt: «Ich bin mir sicher, dieser Junge wird noch eine echte Geldmaschine.»
Sinners Seriosität und Arbeitsmoral würden die grossen Marken heutzutage gut verkaufen können. Der junge Pustertaler, der einst auch als grosses Ski-Talent galt, trete den Beweis an, dass es «auch ohne Jetset-Leben» funktioniere. Selbst die Berichte um seine neue Freundin, die russische Tennisspielerin Anna Kalinskaya (25), hält Sinner in Schach. Weil er den Medien keine Geschichten zum Frass vorwirft.
Bemerkenswerte Turnierdichte in Italien
Sinners Streben nach oben scheint ansteckend: In Roland Garros wies Italien geschlechterübergreifend elf (!) Vertreter in der zweiten Runde auf. In den Top 100 der Weltrangliste kann das Land neun Männer und fünf Frauen vorweisen. Und alle profitieren sie auch von einer breiten Turnier-Struktur: Nebst dem Masters in Rom und dem WTA-Event in Palermo gibt es etwa auf Challenger-Stufe bei den Männern 16 Turniere von Como bis Neapel. So viele, wie sonst kein anderes Land stemmt.
Oder wie Guerrini zusammenfassend festhält: «Sinner steht an der Spitze einer grossen Bewegung im ganzen Land.»