Von allen Seiten kommen Bälle geflogen oder Ballkinder gespurtet. Selbst Michelle Kiener muss aufpassen, dass sie im Kreuzfeuer nicht getroffen wird, als sie über die fünf Hallenplätze vom Tenniscenter Paradies schreitet. Hier in Allschwil, unmittelbar an der Stadtgrenze zu Basel, bereiten sich jeweils die Ballkids für die Swiss Indoors vor. Und hier ist Kiener an diesem Tag die Chefin im Haus.
Seit 25 Jahren bildet sie nunmehr die Mädchen und Buben im Alter von 11 bis 16 Jahren aus, die den Tennis-Stars die Bälle zuwerfen oder -rollen. Von Tim Henman oder Andre Agassi bis hin zu Novak Djokovic, Rafael Nadal und natürlich Rekordsieger Roger Federer – Kiener hat beim traditionsreichen Turnier schon alle kommen und gehen gesehen.
In diesem Jahr punktet sie bei der Vorstellung des Teilnehmerfelds – nach der Absage von Carlos Alcaraz – vor allem mit Holger Rune oder den Schweizern Stan Wawrinka und Dominic Stricker. Ihre Namen sorgen für am meisten Getuschel unter den Kindern. Klar: Auch sie freuen sich über die attraktive Entry List des ATP-500-Events, der am Montag mit der ersten Hauptrunde lanciert wird. Doch wenn es während der Turnierwoche ernst gilt, wird von ihnen verlangt, dass sie Contenance bewahren: «Auch die Kids sind offizielle Vertreter des Events. Und als solche supporten wir keine Spieler. Selbst auf der Tribüne klatschen wir nicht. Es gilt, das Pokerface aufzusetzen.»
«Man darf Fehler machen»
Disziplin müssen Kiener und ihr Team auch im Training verlangen. Es geht um eine gute Körperhaltung, Tempo und Achtsamkeit auf dem Platz. Alles soll möglichst geordnet ablaufen und aussehen. In Allschwil werden – mit Tennisspielern aus der Region – extra Games und Tiebreaks simuliert.
«Es ist wichtig, dass wir konzentriert bei der Sache sind», sagt Jeremy (14), der zum zweiten Mal dabei ist. Und Amy (12) meint: «Streng ist es vor allem dann, wenn man gerade am Netz eingeteilt ist.» Kyana (13) aber betont wie die anderen beiden auch: «Es macht grossen Spass.» Und ausserdem sei sie sich es ja gewohnt, viel Sport zu machen. Der Grossteil der Kids spielt selbst auch Tennis.
Kiener sagt: «Natürlich müssen wir ein bisschen streng sein, aber letztlich reden wir hier immer noch von Kindern: Man darf Fehler machen. Und ich glaube, am Ende kann es eine sehr lehrreiche Woche für alle sein.» Grundsätzlich gehe es darum, eine gute Visitenkarte fürs Turnier abzugeben: «Die Profis sollen einen reibungslosen Ablauf vorfinden, sie sollen sich nicht nerven müssen. Es gilt: Wir sind dann gut, wenn wir nicht auffallen.»
In Wimbledon ist alles noch eine Dimension grösser
Ausgewählt wurden die 60 Kids schon im Juni im Rahmen einer ersten Selektion, für die sich 120 Interessierte anmelden konnten. Sind die Teilnehmenden einmal auserkoren, folgt im Oktober der Schulungstag in Allschwil und unmittelbar vor Turnierstart ein gemeinsamer Rundgang durch die St. Jakobshalle.
Zum Vergleich: In Basel sind im Einzel-Hauptfeld 32 Spieler am Start (plus 16 Teams im Doppel). Bei einem Grand-Slam-Turnier wie Wimbledon hingegen sind es sowohl bei den Frauen als auch bei den Männern je 128, dazu kommen noch zahlreiche weitere in den Qualifikationen und den anderen Kategorien. Wimbledon, das traditionell Ende Juni oder Anfang Juli beginnt, wählt deshalb jedes Jahr aus 1000 Bewerbungen 250 Ballkids aus, die mit den ersten Trainings schon im Februar beginnen.
Doch egal ob im Südwesten Londons oder zu St. Jakob in Basel: Nichts ist besser als Matchpraxis, sagt Kiener lachend: «Wir merken, dass die Kinder am Schulungstag schon fokussiert sind. Aber wenn dann wirklich ein Star neben ihnen steht, funktioniert alles noch besser.»
Federers Pizza-Aktion hallt noch immer nach
Die Allermeisten müssen während der Turniertage eine echte Doppelbelastung stemmen. «Manche stehen um sechs Uhr auf, um in die Schule zu gehen. Dann treffen sie um 13 Uhr in der Halle ein und sind in der ersten Schicht eingeteilt – das gilt oft für die Jüngeren. Andere kommen erst um 17.30 Uhr, bleiben dann aber bis zum Schluss, wenn gegen Mitternacht das letzte Spiel vorbei ist.» Wer bereits in einer Berufslehre steckt, muss für die Swiss Indoors extra freinehmen.
Dafür werden die Ballkinder mit unvergesslichen Erlebnissen belohnt. «Es ist unglaublich toll, so nahe an den Spielern zu sein», sagt Jérôme (16), der schon 2019 beim letzten Federer-Auftritt (und -Sieg) dabei war. Es war das letzte Mal, dass die Ballkinder von Federer die traditionelle Pizza spendiert bekamen. «Sie war sehr fein», erinnert sich Jérôme zurück und fügt an: «Vielleicht gibts ja wieder mal so eine ähnliche Tradition.»
Trainerin Kiener würde sie mit Sicherheit nicht unterbinden. Sie sagt: «Strahlende Kinderaugen sind für mich das Grösste. Wenn sie Ende Woche happy sind, bin ich es auch.»