Blick: Heinz Günthardt, welcher Spieler reisst Sie aktuell vom Hocker?
Heinz Günthardt: Die wahnsinnigste Story ist schon die von Rafael Nadal nach dieser Verletzungspause. Er hat in diesem Jahr keinen Match verloren – auf Hartplatz.
Was trauen Sie ihm in dieser Saison zu – sollte er verletzungsfrei bleiben?
Wenn er verletzungsfrei bleibt, mindestens noch ein oder zwei Grand Slams. Das mit dem verletzungsfrei bleiben ist aber das grosse Fragezeichen. Im Normalfall wird das nicht der Fall sein. Warum ausgerechnet in diesem Jahr? Hochleistungssport belastet den Körper entsprechend. Die Wahrscheinlichkeit, dass hie und da Probleme auftreten, ist sehr gross. Aber auch wenn er nicht verletzungsfrei ist, tritt er trotzdem an. Mehr Kampfgeist hat die Tennis-Welt nie gesehen.
Mit ein, zwei weiteren Grand Slams wird dann auch die Nummer 1 ein Thema.
Ja... Wobei ich glaube, dass dies jetzt weniger wichtig ist, als Titel Nummer 14 bei den French Open – das wäre ein weiterer Sieg für die Geschichte. Und ich meine, das geht mehr in die Geschichte ein, als wenn er nochmals wieder Weltranglistenerster wird.
Aktuell ist Daniil Medwedew auf dem Tennis-Thron. Die ATP und WTA haben sich bewusst gegen den Ausschluss der russischen Tennis-Stars entschieden. Wie sehen Sie den Beschluss?
Wir haben das Bild von Rublew, der nach einem Match «No War» auf die Kamera schreibt – ohne Wenn und Aber. Das braucht Courage. Wir Schweizer wissen nicht wie das ist, wenn du unter Umständen nicht mehr nach Hause kannst. Man muss sich bewusst sein, was das heisst. Darum kann ich nachvollziehen, wenn Leute gewisse Sachen aus Selbstschutz nicht kritisieren. Weil es geht nicht um dich alleine. Sie haben unter Umständen auch noch eine Familie, die in Russland sitzt. Wenn es um Mannschaften geht, finde ich, ist es überhaupt keine Frage. Das wird mit der Flagge und Nationalhymne begleitet. Bei Einzelsportlern ist es ein schwieriges Thema.
Kommen wir zum Sportlichen zurück. Hat Medwedew eine neue Ära eingeleitet?
Ja, das merkt man an der Weltrangliste. Wenn man die ersten 20 anschaut – und die Üblichen ausklammerst – sind es alles «Junge». Es wächst eine interessante Generation an, wo einige dabei sind, die das Niveau von Nadal, Djokovic und Federer erreichen können.
An wen denken Sie bei der neuen Generation?
Carlos Alcaraz, Felix Auger-Aliassime, Jannik Sinner – die sind gut. Ob sie so gut werden wie die Big 3, ist ein anderes Thema. Schade ist, dass diese Generation nicht schon ein paar Jahre früher gespielt hat. Das wäre super gewesen: die drei in ihrer Blütezeit gegen die Neuen, die sie richtig pushen. Das hat es in diesem Sinn nicht gegeben.
Novak Djokovic wird die kommenden Turniere in den USA verpassen und eventuell noch weitere. Wie schätzen Sie seine Situation ein?
Spätestens seit Nadal wissen wir, dass die Big 3 auch ohne Matchpraxis brandheiss sind. Man könnte es umdrehen, dass er dafür frisch sein wird in der zweiten Saisonhälfte, wenn die anderen schon müde sind. Ich traue ihm als Tennisspieler mehr oder weniger alles zu.
Die Weltrangliste ist also sein kleinstes Problem?
Ja, völlig klar. Die Weltrangliste ist ja auch ein Computer, der gefüttert wird und am Ende eine Person herauswirft. Da kann ein Spieler nur wenige Turniere spielen, alle gewinnen und trotzdem nicht die Nummer eins sein. Es kommt auf die Berechnung an. Das System motiviert, mehr zu spielen – was natürlich gut für die Tour ist.
Bei den Frauen gibts an der Spitze seit über einem Jahr kein Vorbeikommen an Ash Barty. Gibt es ein Ende ihrer Dominanz?
Ja, durchaus! Was bei den Frauen auffällt, ist, dass gewisse Leute mit sehr viel Talent und Vermögen Mühe haben mit dem Umfeld. Naomi Osaka ist eine, die das auch öffentlich gemacht hat. Ein weiteres Beispiel ist Emma Raducanu. Sie kann ohne Frage Tennis spielen. Was spannend wird, ist, ob sie mit dem Ganzen umgehen kann, was das alles beinhaltet. Die ersten Monate nach ihrem US-Open-Sieg waren schon einmal etwas schwierig. Nicht überraschend, denn es ist sehr viel, was plötzlich auf sie einprasselt.
Was unterscheidet denn Barty vom Rest?
Sie hat die beste Balance gefunden. Tennis spielen, rausgehen und Spass haben, aber wenn sie keine Lust hat, lässt sie auch mal den WTA-Final aus.
Sehen wir die Williams-Schwestern noch einmal auf dem Court?
Das ist schwierig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Serena nochmals antritt, ohne das Gefühl zu haben, nochmals einen Grand Slam gewinnen zu können. Ihre Motivation ist, der 24. Major-Titel zu holen – am liebsten noch den 25. und so den Rekord. Ab einem gewissen Alter ist es aber schwierig, auf das nötige Level zu kommen.
Und bei Venus?
Bei ihr ist es etwas anderes. Es macht ihr offensichtlich sehr viel Spass, Tennis zu spielen. Ich finde im Gegensatz zu vielen anderen Leuten: Wenn du erfolgreich gewesen bist und es macht dir Spass, dann hast du das Recht verdient, es so lange zu tun, wie du willst. Es wäre für mich etwas Absurdes, zu sagen, dass man dies nicht darf, weil man Erfolg hatte.
Da gibts Parallelen zu Roger Federer.
Definitiv, ja. Dazu kommt, dass man sich nur an Siege erinnert. Gewisse haben das Gefühl, man mache sich die Legende kaputt. Das ist nicht ganz richtig. Weil keiner weiss beispielsweise, wie das letzte Turnier von John McEnroe oder Ivan Lendl war. Weil es niemanden interessiert.
Bleiben wir gleich beim «Maestro». Er soll langsam wieder angefangen haben, Tennis zu spielen, und peilt sein Comeback für den Herbst an. Ein guter Zeitpunkt?
Der Laver Cup wäre der perfekte Einstieg für ihn. Dort kann er sich genau so viel einsetzen, wie er will. Er spielt seine Matches, schaut wie er sich fühlt und kann dann noch mehr oder weniger spielen. Es ist alles eine Frage der Fitness. Ein Best-of-Five in einem Grand Slam ist eine enorme Belastung. Um dorthin zu kommen, musst du im Training voll belasten können, sonst bekommst du den Fitnesszustand nicht hin. Aber: Wenns einer schafft, dann er.
Alle Tennis-Romantiker hoffen darauf.
Schön wäre es, logisch.
Stan Wawrinka will ja schon früher auf die Tour zurück. Viel hat man von ihm nicht mitbekommen, ausser Videos von harten Trainingseinheiten.
Das konnte man ihm noch nie ankreiden. Das ist einer der Gründe, warum er auch so gut geworden ist. Er hat das Talent sich, zu schinden, seine Grenzen auszuloten. Daher sind auch die Chancen gut, dass er ein gutes Niveau erreichen wird. Wenn er seinen Rhythmus findet, macht er vom Spiel her so viel Druck, dass er die Leute wegdrücken kann – egal wer auf der anderen Seite steht. Das setzt aber voraus, dass seine Gelenke halten.
Belinda Bencics Saison nach dem Olympia-Erfolg hat leider wegen den Covid-Folgen nicht gut angefangen.
Sie ist eine Spielerin, die glaubt, sie müsse viel trainieren, dass sie gut spielt. Ich denke, das ist nicht der Fall, aber sie ist so aufgewachsen. Das Problem mit Corona ist nicht einfach. Erstens ist es mental, weil sie das Gefühl hat, sie konnte nicht das tun, was sie normalerweise gern machen würde. Und zweitens hat sie Mühe gehabt, das Volumen zu erreichen, weil sie sich nicht fit gefühlt hatte – auch während den Spielen.
Wie kommt sie da raus?
Bei den Frauen ist auffallend, dass du 50, 60 hast, die richtig gut sind. Sie sind alle auf einem ähnlichen Niveau. Wenn da drei, vier Prozent an Leistung fehlen, landest du in der Masse. Aber Belinda kann sehr gut Tennis spielen und muss einfach in den Rhythmus kommen.
Ein kurzer Blick in die Zukunft. Dominic Stricker gilt ja als eine der Schweizer Tennis-Hoffnungen. 2021 hat er einen grossen Sprung gemacht. Wohin führt sein Weg noch?
Hoffentlich ganz nach vorne. Das Schöne ist, dass er nicht der Einzige ist, der das Potenzial hat, dies zu schaffen. Unser Anspruch ist, im Davis Cup in der ersten Division zu spielen. Das heisst, du musst zwei haben, die vom Niveau her Minimum unter den ersten 100 spielen können. Das ist für eine kleine Nation gar nicht so einfach. Normalerweise reichen zwei nicht wegen Verletzungen etc. Wenn wir jetzt bei den Jungen schauen, haben wir einige, die das Potenzial dafür haben.