BLICK: Herr Simon, inwiefern macht Tennis verrückt?
Gilles Simon: Tennis ist ein sehr schwieriger, aufreibender Sport, auf jedem Niveau – bei der Jugend, den Amateuren und Profis. Die Spieler ärgern sich, es macht sie fertig. Ich sehe die Gründe dafür schon beim Beginn der Laufbahn. Deshalb habe ich das Buch so genannt.
Macht Sie Roger Federer am verrücktesten?
Das hat mit ihm gar nichts zu tun. Es gibt viele Auslöser. Das Schlimmste für mich ist, wenn ich die Konzentration verliere und nicht mehr voll im Match drin bin. Wenn ich nur noch alle Geräusche oder Kommentare auf der Tribüne höre. Diese Momente hasse ich am meisten, aber sie kommen nicht zufällig. Das Ziel eines guten Spielers muss sein, zu erkennen, wann und warum das passiert.
Haben Sie was gegen Federer?
Natürlich nicht, ich habe absolut nichts gegen ihn. Warum?
Weil man Ausschnitte Ihres Buches so verstehen kann.
Sie haben nur Ausschnitte gelesen, die in den Medien zitiert und womöglich auch falsch übersetzt wurden. Genau das ist das Problem – würden Sie das ganze Buch lesen, hätten Sie diesen Eindruck nicht. Wie die Mehrheit aller Menschen bewundere ich Roger Federer, keine Sorge!
Warum ist Federer dann das Problem für die Franzosen?
Nicht Roger ist das Problem, die Franzosen sind das Problem. Ich versuche zu erklären, was ihnen fehlt, um wieder einen Grand Slam zu gewinnen – ohne dass dem Modell Federer gefolgt werden muss. Darum gehts. Schon bevor er bekannt war, wollte man in Frankreich einen Spieler wie Roger haben. Einen mit dieser Haltung, Erscheinung, Eleganz, Kühnheit, mit dem perfekten Spielstil von Serve- and-Volley. Schon als ich 8 Jahre alt war – Federer war da 11 – hiess es, spiele Serve-and-Volley! Aber wer nicht so genial wie Roger war, konnte sich nicht durchsetzen. Alle Länder wünschten sich, er wäre einer von ihnen. Aber seine Art entspricht genau dem französischen Ideal. Ausser, dass er nicht Franzose, sondern Schweizer ist.
Ist das denn so schlimm?
Für unsere Jugend ist es problematisch. Sie wird nach Roger gezüchtet – wir sehen kein anderes Vorbild mehr. Dabei vergessen wir, dass es fast unmöglich ist, ein Federer zu werden. Der ist einzigartig. Wir hatten potenzielle Grand-Slam-Sieger im Nachwuchs. Aber anstatt sie zu ermutigen, ihren eigenen Weg zu gehen, zwang man sie, einen zu gehen, der ihnen nicht entspricht. Letztlich haben sie nie einen Grand Slam gewonnen. Ich weiss, wovon ich rede, bin selbst mit den Erwartungen aufgewachsen, wie ein französischer Grand-Slam-Sieger zu spielen hat. Ich fand es schrecklich, es raubte mir furchtbar viel Energie, denn ich sollte etwas machen, das ich nicht konnte. Weil ich nicht der Einzige war, den das störte, schrieb ich das Buch. Ich brauchte vier Jahre, um meine Gedanken zu strukturieren.
Sie, Monfils, Gasquet oder Paire haben doch Ihren eigenen Stil!
Aber der Weg dorthin war nicht ermutigend. Ich habe immer gehört, dass ich so nie Grosses gewinnen würde, dieser Glauben manifestierte sich mit der Zeit. Warum ermutigte mich nie jemand, es auch auf meinem Weg schaffen zu können? Andy Murray machte in seiner Karriere nicht einen Halbvolley wie Federer und gewann trotzdem Grand Slams und Olympische Spiele. Warum schaffte es Djokovic so weit? Sicher nicht mit den Mitteln Federers. Jeder hat seine Stärken, von denen muss man überzeugt sein. Aber diese Überzeugung fällt der Jugend nicht vom Himmel.
Was hat Federer mit den Doping-Gerüchten um Nadal zu tun?
Auch das wird oft falsch verstanden. Es ist ein Beispiel für die Verherrlichung Federers. Er galt als perfekt, unschlagbar. Als Nadal begann, öfter zu siegen, war die logische Folge: Der muss gedopt sein! Das war die einzige Erklärung, eine andere wurde nicht akzeptiert.
Und darum soll Federer seine Rekorde verlieren?
Das wünsche ich ihm nicht persönlich. Aber wenn er sie verliert, sind wir gezwungen, auch die anderen Spieler endlich mal zu sehen. Der Grösste wird an der Anzahl Grand-Slam-Titel gemessen – das ist so im Tennis. Solange Roger seine Rekorde behält, hört man in Frankreich nicht auf, zu sagen: Er ist der Beste, du musst so spielen wie er!
Ist denn Djokovic das perfekte Vorbild? Oder Nadal?
Es geht gar nicht darum, wer das perfekte Vorbild ist. Die Ausbildung eines Kindes sollte individuell sein, denn es gibt keine gute oder schlechte Art, Tennis zu spielen. Ich gebe zu, es gibt eine, die schöner anzusehen ist. Auch ich staune, wenn mir Roger einen sanften Halbvolley setzt. Er hat sicher das unterhaltsamste, schönste, leichteste Spiel von allen, und er ist nicht nur wegen dem Tennis einzigartig auf diesem Planeten. Seine Strahlkraft ist enorm, jeder kennt ihn, auch wer noch nie ein Racket in der Hand hielt. Aber allmählich wird uns bewusst, dass vielleicht bald ein anderer seine Rekorde haben wird. Vielleicht endet dann endlich dieser ideologische Irrsinn. Er ist ein Genie, okay. Aber müssen wir uns deshalb alle zu Idioten machen? Wir haben ja drei fantastische Spieler für die Geschichte!
Gibt es unter den Spielern Lager in der GOAT-Diskussion?
Es gibt eher diejenigen, die Novak nicht mögen oder ihm folgen, weil er sich so engagiert und polarisiert. Federer und Nadal sind diplomatischer, weniger politisch. Ich selbst hätte Mühe, mich für ein Lager zu entscheiden. Mein Lieblingsspieler ist Rafa. Am stärksten finde ich Novak. Und Federer ist sicher der Beeindruckendste wegen seines Stils.
Was halten Sie von Djokovics Tennis-politischen Ansichten?
Ich sass lange Zeit auch im ATP-Spielerrat, ich finde auch, dass wir Spieler zu wenig vertreten sind und eine bessere Organisation bräuchten – insofern bin ich bei Novak. In anderen Punkten teile ich seine Meinung aber gar nicht. Er ist oft etwas extrem – aber das macht ihn offensichtlich auch so gut.
Stichwort «Mythos Federer»: Ist Roger anders als sein Image?
Gezwungenermassen, so läuft das mediale Spiel. Man hebt ihn höher, als er sein kann. Egal, wie er lebt, was er macht – er bleibt der Beste. Das ist sicher nicht völlig erfunden und gelogen – er hat ja grosse Klasse. Aber das Bild entspricht ihm bestimmt nicht zu hundert Prozent.
Einheimische Paris-Fans hielten schon zu ihm statt zu Ihnen ...
Das war in Roland Garros auf dem Centre Court – der ist nicht typisch französisch, die vielen geladenen Gäste sind oft für den Besseren. In Paris Bercy ist das anders. Aber das hat mich eh nie besonders tangiert, andere nehmen das persönlicher, wie Djokovic. Der kann den Frust dafür zu seinen Gunsten nutzen – siehe Wimbledon letztes Jahr ...
In Basel war sogar Ihr Sohn nicht für Sie, sondern für Federer!
Ja, das ging so: Meine Frau war schon immer ein grosser Nadal-Fan, durch sie wurden es natürlich auch meine Söhne. Dann – 2017 – bezwang Federer im Final der Australian Open Nadal in fünf Sätzen. Mein Sohn Timothée war sauer, schimpfte, warum wir ihm Nadal einredeten, wenn Federer doch besser sei! Seitdem ist Roger Timothées Held – niemand kann ihm mehr das Wasser reichen. Auch ich nicht – das sagte mir der Junge sogar, als ich in Basel auf Federer traf ... So sind Kinder halt (lacht).
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