Ob Casper Ruud (23) eine Wahrsager-Kugel besitzt? Letztes Jahr sagte er in einem Interview mit TennisTV voraus: «Nächstes Jahr werden wir einen Grand-Slam-Halbfinal erleben, in dem die Spieler 26 sind oder jünger.»
Beim letzten Major-Turnier des Jahres ist es so weit. Mit dem Norweger, Carlos Alcaraz (19), Frances Tiafoe (24), Karen Chatschanow (26) und eben Casper Ruud (23) war schon lange nicht mehr ein Grand-Slam-Halbfinal so jung.
Vor einiger Zeit – als es den Anschein machte, dass die Zeit der «Big 3», Federer, Djokovic und Nadal, vorbei sei – sprach man von den neuen grossen drei. Abschreiben kann man dieses Trio mit Alexander Zverev (im Aufbau nach Verletzung), Daniil Medwedew (Titelverteidiger) sowie Stefanos Tsitsipas natürlich nicht. Und offensichtlich fehlt in New York mit Djokovic einer der grössten Titelkandidaten – und Nadal kam ohne Spielpraxis, war mit seinen Gedanken mehrheitlich bei seiner Familie.
Die diesjährige Halbfinal-Konstellation zeigt aber: Die nächste Generation rollt an. Ruud und Alcaraz werden am Sonntag um ihren ersten Major-Titel sowie den Thron in der Weltrangliste spielen. Es sind aber nicht sie zwei allein, die vielversprechend für die Zukunft des Männertennis sind.
Federer, Djokovic, Nadal – die «Big Three» haben in den letzten 15 Jahren die Tennis-Welt dominiert. Das schlägt sich auch beim Durchschnittsalter der Grand-Slam-Halbfinalisten nieder.
2008 betrug das durchschnittliche Alter aller Grand-Slam-Halbfinalisten 23,6. Damals starteten die grossen Drei ihren Siegeszug durch die Tennis-Welt. Was in den Jahren danach folgte, ist logisch: Weil Federer und Co. immer älter wurden, sie aber trotzdem erfolgreich blieben, stieg auch das Durchschnittsalter immer mehr an.
Den Höhepunkt gab es 2017, als die Halbfinalisten durchschnittlich 29,8 Jahre alt waren, also über sechs Jahre älter als noch 2008.
Seitdem sinkt der Schnitt wieder, weil Jüngere erfolgreich nachrücken. An den diesjährigen US Open wurde mit 23,0 Jahren ein historisches Allzeittief erreicht. So jung waren die Halbfinalisten seit den US Open 2008 nicht mehr.
Federer, Djokovic, Nadal – die «Big Three» haben in den letzten 15 Jahren die Tennis-Welt dominiert. Das schlägt sich auch beim Durchschnittsalter der Grand-Slam-Halbfinalisten nieder.
2008 betrug das durchschnittliche Alter aller Grand-Slam-Halbfinalisten 23,6. Damals starteten die grossen Drei ihren Siegeszug durch die Tennis-Welt. Was in den Jahren danach folgte, ist logisch: Weil Federer und Co. immer älter wurden, sie aber trotzdem erfolgreich blieben, stieg auch das Durchschnittsalter immer mehr an.
Den Höhepunkt gab es 2017, als die Halbfinalisten durchschnittlich 29,8 Jahre alt waren, also über sechs Jahre älter als noch 2008.
Seitdem sinkt der Schnitt wieder, weil Jüngere erfolgreich nachrücken. An den diesjährigen US Open wurde mit 23,0 Jahren ein historisches Allzeittief erreicht. So jung waren die Halbfinalisten seit den US Open 2008 nicht mehr.
Carlos Alcaraz (ATP 4)
Das Viertelfinal-Spektakel gegen Jannik Sinner beschreibt Alcaraz als «die beste Partie meiner Karriere». Es trifft sich gut, dass der Spanier in New York wieder einmal für Furore sorgt. 2021 wurde er der breiten Masse ein erstes Mal ein Begriff, als er sensationell in die Viertelfinals einzog. Seitdem ist er zum grossen Shootingstar der Tour avanciert. Am Montag wird er unter den besten zwei der Welt gelistet sein. Stets in seiner Box: Trainer Juan Carlos Ferrero. Mit 15 Jahren fing Alcaraz an, in der Akademie der ehemaligen Nummer 1 zu trainieren. Ein Jahr später wurde Ferrero sein Trainer.
Mit seiner spektakulären Spielweise und Bescheidenheit dient der junge Mann aus Murcia bereits als Inspiration für einige im Tennis-Zirkus. So habe sich Coco Gauff bei ihrem Lauf in den French-Open-Final Alcaraz zum Vorbild genommen, um mit dem Druck umzugehen. Tatsächlich scheint dieser dem 19-Jährigen wenig anzuhaben. Vor den French Open wurde er erstmals als einer der grossen Favoriten bei einem Grand Slam gehandelt. Nach seinem Viertelfinal-Out gegen Zverev sagte er, dass er das Turnier mit erhobenem Kopf verlassen könne. Er wisse, dass seine Zeit noch kommt.
Heinz Günthardt: Sitzt er tatsächlich kurz auf dem Hosenboden in diesem Ballwechsel, bevor er in der anderen Ecke – voll in der Grätsche – den Ball am heranstürmenden Jannik Sinner vorbeispielt? In Zeitlupe ist es zu sehen. Tatsächlich! Sprint, Ausrutscher, Hosenboden, Sprint, Grätsche, Winner. Alles in einem Fluss. Keiner auf der Tour ist flinker und beherrscht seinen Körper besser als Alcaraz. Das erinnert an den jungen Rafa. Und der steht momentan bei 22 Grand-Slam-Siegen.
Casper Ruud (ATP 7)
Auf der Frauen-Tour ist es noch üblich, dass die Väter als Trainer dabei sind. Bei den Männern ist dies weniger der Fall. Lange galt Christian Ruud als der beste Tennis-Spieler Norwegens aller Zeiten. In den 90er-Jahren schaffte er es bis auf Platz 39 der Weltrangliste, erreichte bei den Australian Open einmal die Achtelfinals. Bis Casper kam. Daran, dass sein Sohnemann alle Tennis-Rekorde Norwegens bricht, trägt der 50-Jährige als dessen Trainer einen grossen Anteil.
Ruud spielte meist auf Sandplätzen und nahm sich Rafael Nadal zum Vorbild, trainierte einige Zeit auch in seiner Akademie. Wenig verwunderlich feierte er in Roland Garros seinen bisher grössten Major-Erfolg mit dem Einzug in den Final. Gegen Sandkönig Nadal hatte er dann keine Chance. Am Sonntag bietet sich die nächste. Der 23-Jährige hat auch eine spezielle Verbindung zur Schweiz. Von 16 Partien hat er hier alle gewonnen, je zweimal die Turniere von Genf und Gstaad.
Befindet sich Ruud nicht gerade auf dem Court, verbringt er seine Zeit am liebsten auf dem Golfplatz. Eine weitere Leidenschaft, die er mit Papa Christian teilt und für die er sogar einen eigenen Instagram-Kanal besitzt.
Heinz Günthardt: «Schaffe, schaffe, Häusle baue.» Warum gewinnt Casper Ruud eigentlich ständig? Andere haben bessere Schläge, andere sind bessere Athleten. Selten sorgt sein Spiel für unglaubliches Staunen oder stehende Ovationen. Aber auch ganz selten schenkt er was her. Seine Stärke ist eine unglaubliche Konzentrationsfähigkeit und eine enorme Willensstärke. Wie ein Dampfschiff auf ruhiger See stampft er vorwärts Richtung Sieg. Das ist zwar nicht immer spektakulär, aber für seine Gegner fürchterlich schwierig zu stoppen.
Jannik Sinner (ATP 13)
Beim Südtiroler hiess es in der Jugend Slalom statt Serve-and-Volley. Um ein Haar hätte man Sinner nicht auf den Tennis-Courts dieser Welt, sondern auf den steilsten Ski-Pisten bewundern können. 2008 krönte er sich zum italienischen Junioren-Meister im Slalom, vier Jahre später zum Vize-Meister. Sein Idol damals? «Alberto Tomba», wie er der «Daily Mail» sagte, «aber am liebsten habe ich Bode Miller zugeschaut.» Mit 13 Jahren entschied sich Sinner schliesslich für Tennis.
Als Schützling von Riccardo Piatti avancierte er 2019 zum Champion der NextGen-Finals und stiess mit 18 Jahren in die Top 100 der Welt vor. Ein Jahr später sorgte er bei den French Open für Aufsehen, als er bis in die Viertelfinals stürmte. Als erster Spieler, der im neuen Jahrtausend geboren wurde, gelang ihm 2021 der Sprung in die Top 10. Seitdem bewegte er sich stets im Orbit der Besten der Welt. Der ganz grosse Wurf ist ihm aber noch nicht gelungen.
Heinz Günthardt: 1984 singt Sade den Welthit «Smooth Operator». Kein Lied passt besser zum Spielstil des jungen Jannik Sinner. Keine Ecken, keine Kanten. Niemand spielt effizienter, lässt das unendlich schwierige Tennisspiel einfacher aussehen als er. Klar bleiben auch bei stundenlangem Training seine Arme dünn. Es fällt ihm schlicht zu einfach, den Ball zu beschleunigen. So wenig Aufwand verspricht so viel für die Zukunft, dass er ein heisser Kandidat für mehrere Grand-Slam-Titel ist.
Frances Tiafoe (ATP 26)
Der US-Amerikaner ist die Entdeckung der US Open. Während bei einigen Tennis-Stars nur sprichwörtlich gesagt wird, dass sie auf dem Tennis-Court aufgewachsen sind, wohnte Frances Tiafoe tatsächlich jahrelang in einem Tennis-Zentrum. Seine Eltern flüchteten in den 90er-Jahren vor dem herrschenden Bürgerkrieg in Sierra Leone. Seine Mutter arbeitete als Krankenschwester, sein Vater auf der Baustelle des Junior Tennis Champions Center in College Park, Maryland. Später als Platzwart bekam er ein Büro, wo die Familie schlafen durfte.
Einen entscheidenden Einfluss auf seine Karriere hatte auch Serena Williams. In New York trägt Tiafoe regelmässig einen Pullover mit dem Wort «Goat» und Bildern von Serena darauf. Auf dem Rücken sind all ihre 23 Grand-Slam-Siege aufgeführt. «Sie ist definitiv der Grund, warum ich glaube, dass ich die Dinge tun kann, die ich tue. Als ich jünger war, habe ich meinem Vater gesagt, dass ich Profi-Tennisspieler werden kann, weil ich sie und Venus gegeneinander spielen sah», erklärt der 24-Jährige gegenüber ESPN.
Heinz Günthardt: Tiafoe ist ein Kraftpaket. Er muss es aber auch bei seiner Spielweise sein. Während andere scheinbar über den Court gleiten, bringt Frances den Untergrund zum Zittern. Newtons drittes Gesetz der Wechselwirkungskräfte ist anschaulich nachzuvollziehen, wenn Tiafoe eine Trainingseinheit auf einem etwas zu weichem Sandplatz hinter sich hat – überall sind Löcher zu sehen. Diese Kraft ist für die Gegner zu spüren. Er ist das Schwergewicht der Gruppe. Er agiert weniger mit dem Skalpell, mehr mit dem Hammer – und dies unermüdlich.
Félix Auger-Aliassime (ATP 8)
Der Kanadier war ein vielversprechender Junior, wurde einst auf Platz zwei gelistet und gewann den US-Open-Titel auf dieser Stufe. Bereits mit 14 Jahren qualifizierte sich Auger-Aliassime fürs Hauptfeld eines Challenger-Turniers, zwei Jahre später feierte er seinen ersten Turniersieg auf dieser Stufe. Der 22-Jährige hat einige Parallelen zu Roger Federer, die besonders das Herz von Zahlen-Fanatikern höherschlagen lassen. Die beiden teilen sich den Geburtstag (8. August) und während Federer im Februar 2000 seinen ersten Final mit 18 Jahren auf ATP-Stufe bestritt und verlor, tat ihm dies Auger-Aliassime 19 Jahre später gleich.
Aus dieser ersten Endspiel-Niederlage wurde eine unglückliche Serie. In den zwei Jahren darauf verlor er auch seine nächsten sieben Finalspiele. Den ersten Titel durfte Auger-Aliassime im Februar 2022 in Rotterdam in die Höhe stemmen. Dennoch kletterte er in dieser Zeit fleissig die Ranking-Leiter hoch. 2021 dringt er bis in den Halbfinal der US Open vor, wo ihn der spätere Champion Daniil Medwedew bezwingt. Zwei Monate später gelang ihm der Sprung unter die besten 10 der Welt.
Heinz Günthardt: Auger-Aliassime hat von allem etwas. Er ist kraftvoll und trotzdem leichtfüssig. Er ist ein wenig Alcaraz und ein wenig Sinner. Warum ist er dann nicht noch erfolgreicher bis jetzt? Weil es schwierig ist, unter vielen Möglichkeiten das Richtige auszuwählen. Konstant gut zu spielen, ist auch die Kunst, sein Spiel zu vereinfachen, um es einfacher wiederholen zu können. Das ist notwendig an Tagen, an denen es nicht optimal läuft, das Timing nicht stimmt. Und so ein Tag kommt ganz bestimmt über zwei Wochen bei einem Grand-Slam-Turnier. Weniger ist manchmal mehr! Wenn Auger-Aliassime seine Fähigkeiten lernt zu sortieren, dann aufgepasst!
Holger Rune (ATP 33)
Der 19-Jährige gehört zu den grossen Aufsteigern dieses Jahres. Im Januar war er noch auf Platz 102 gelistet, inzwischen gehörte er zwischenzeitlich zu den Top 30 der Weltrangliste. Rune war als Junior äusserst erfolgreich. Er gewann 2019 die French Open und wurde später zur Nummer 1 der Welt. Drei Jahre später spielte er sich bei den Profis erneut in Roland Garros in den Fokus. Einerseits aus sportlichen Gründen mit seinem Einzug in die Viertelfinals. Aber auch mit seinem Verhalten auf dem Platz.
Gegen Casper Ruud zeigte er Anzeichen eines «Enfant terrible», als er die Beherrschung verlor und seine Mutter lauthals von der Tribüne verwiesen haben soll. Seit dem Vorfall schaute resultattechnisch nicht mehr viel beim jungen Dänen heraus. Inzwischen arbeitet er mit einem Ex-Elite-Soldaten zusammen, der jetzt als Mental Coach tätig ist. Nach dem ersten Titel bei den diesjährigen München Open soll er mit seiner Hilfe weitere schaffen.
Heinz Günthardt: Die Jungs aus dem Norden von Europa sind vor allem für die amerikanischen Fans kaum auseinanderzuhalten. Rune? Ruud? Dänemark, Norwegen? Definitiv keine klassischen Tennisnationen. Und dann spielen die beiden auch noch ähnlich. Auch Rune ist eher ein effizienter, ewig laufender Dieselmotor als ein hochverdichtender Benziner. Jeden Punkt muss man sich gegen ihn in den Best-of-five-Spielen holen. Das ist mühsam und schwierig. So wird in Zukunft mancher Spieler mit vermeintlich mehr Talent gegen ihn straucheln.
Lorenzo Musetti (ATP 30)
Das italienische Tennis investiert seit längerer Zeit einiges in die Jugend. Die Arbeit beginnt nach und nach, Früchte zu tragen. Mit Berrettini, Sinner, Sonego, Fognini und Musetti befinden sich fünf Italiener unter den Top 60. Die junge Generation schläft nicht, und ausserhalb der Top 100 scharren noch einige weitere mit den Hufen. Musetti ist der jüngste Emporkömmling, der auf sich aufmerksam macht. Auch er feierte einen Junior-Major-Titel – auch er ist eine ehemalige Nummer 1 auf dieser Stufe. Seinen ersten Sieg auf ATP-Stufe gewann er gegen Stan Wawrinka, als er 2020 beim Heim-Masters von Rom die dritte Runde erreichte.
2021 gelang ihm bei den French Open sein bestes Ergebnis bei einem Grand Slam. In der vierten Runde führte er 2:0-Sätze gegen Novak Djokovic, bevor er einbrach, die Sätze drei sowie vier verlor und schliesslich im letzten beim Stand von 0:4 aufgab. Auch er holte sich Hilfe für die im Tennis so wichtige mentale Komponente. Die Folge? In Hamburg gewann er kürzlich seinen ersten Titel gegen Alcaraz.
Heinz Günthardt: Und sie lebt, die einhändige Rückhand! Musetti ist der Beweis dafür, dass sie zeitlos ist. Warum sollte er auch die linke Hand zu Hilfe nehmen, um Rückhand zu spielen, wenn sie seine Reichweite verkürzt und er sie nicht braucht? Nur weil es andere in der Mehrzahl tun? Weil es «modern» ist? Keiner spielt klassischer als Musetti. Etwas anders zu spielen als die Mehrheit der Konkurrenz, kann auch ein Vorteil sein. Ich liebe es, ihm zuzusehen. Hoffentlich bis tief in die zweite Woche von Grand-Slam-Turnieren hinein. Das ist gut möglich.