Novak Djokovic hat seine Drohung wahr gemacht. Im Alter von 36 Jahren müsse er seine Prioritäten noch bewusster setzen: Grand-Slam-Turniere über allem. Dass darunter andere Jahres-Highlights leiden, nimmt er bewusst in Kauf – wie zuletzt in der für seine Verhältnisse mehr schlechten als rechten Sandplatz-Saison vor Paris.
In Roland Garros aber ist der Serbe tatsächlich wieder auf Betriebstemperatur. Im Traum-Halbfinal gegen Weltnummer eins Carlos Alcaraz wehrt er den Angriff der Jugend einerseits mit ausgezeichneter Spieltaktik ab. Und andererseits: schlicht mit seiner Aura – weil sein 16 Jahre jüngerer Widersacher nicht mit der Nervosität klarkommt und im wahrsten Sinne des Wortes völlig verkrampft.
Schreibt der Serbe die Tennis-Geschichte neu?
Wie zu Beginn des Jahres, als Djokovic die Australian Open gewann, ist er imstande, alles auszupacken, was nötig ist für den Triumph. Grösste Bühne, grösster Sport. Und jetzt winkt ihm die grösste aller Bestmarken im Tennis. Schlägt er heute auf dem Court Philippe-Chatrier den Norweger Casper Ruud (24), lässt er Rivale Rafael Nadal (37) stehen und ist alleiniger Grand-Slam-Rekordsieger: mit dann 23 Titeln.
Die Geschichte dieses Sports schwebe «immer» über ihm, sagt Djokovic. Nun sei er überglücklich, in der Position zu sein, sie an diesem Sonntagnachmittag an der Porte d'Auteuil neu schreiben zu können.
Ruuds dritter Finalversuch
Was es heisst, wenn er eine Partie «äusserst fokussiert» angeht, hat zuletzt Alcaraz erfahren, dessen Powertennis regelmässig von Djokovics smarten Spielvariationen ausgehebelt wurde. Nun ist es Ruud, der ihm gefährlich werden will. Der Mann aus der Nähe von Oslo steht zum dritten Mal in den jüngsten fünf Grand-Slam-Turnieren im Final. Im Vorjahr verlor er in Roland Garros gegen Nadal, dann an den US Open gegen Alcaraz. Jetzt könnte er an den French Open nicht nur endlich seinen ersten ganz grossen Sieg einfahren, sondern auch zum Spielverderber in Djokovics historischer Mission werden.
Alexander Zverev (26), der im Halbfinal Ruud in drei Sätzen unterlag, findet: «Der Druck liegt klar bei Djokovic. Das ist die bestmögliche Ausgangslage für Casper, die es gibt.»
2021 dem Druck nicht standgehalten
Djokovic will seinerseits die Schwelle zum Rekord-Titel nicht überbewerten, sagt: «Ich habe ständig Druck auf meinen Schultern, es wird diesmal nicht anders sein.» Zweifellos hat er während seiner langen, reich dekorierten Karriere schon oft Nervenstärke bewiesen – sie ist Teil seines Erfolgsrezepts.
Dennoch ist er schon einmal beim Versuch, ein fettes Ausrufezeichen in die Geschichtsbücher zu setzen, gescheitert: 2021 hätte er die Chance gehabt, nach Siegen in Melbourne, Paris und Wimbledon den ersten «Grand Slam» seit Rod Laver 1969 zu schaffen; alle vier Titel im selben Jahr. Doch dann verlor Djokovic an den US Open im Endspiel gegen Daniil Medwedew (27) glatt in drei Sätzen 4:6, 4:6, 4:6.
Diesmal sagt Djokovic: «Druck ist ein Privileg. Und eine Quelle der Motivation noch dazu.» Auch das klingt wiederum wie eine Drohung.