Wer sich mit Martina Hingis über das Turniergelände in Wimbledon bewegt, braucht Geduld. Hier ein Selfie, da ein Autogramm. Ein Fan hat einen ganzen Stapel Hochglanzbilder mitgebracht, die er signiert haben will. Hingis lächelt, als sie auf die Fotos schaut: «Das war ein besonders schöner Sieg – in Zürich gegen Lindsay Davenport.» Der Weg vom Eingangstor 3 an der Church Road bis zum Aufgang des Spielerrestaurants, der normalerweise drei Minuten dauert, zieht sich um das Zehnfache in die Länge.
Alles «very british»
Hingis spielt seit sechs Jahren nicht mehr auf der Tour – und doch ist sie noch immer präsent – gerade in Wimbledon, wo die früheren Heldinnen und Helden gepflegt und geehrt werden wie sonst nirgends. Sie alle werden in den legendenumwobenen All England Lawn Tennis and Croquet Club aufgenommen. Dies ist viel mehr als ein normaler Tennisklub; es ist wie eine Mischung aus geschlossener Gesellschaft, Sportverein und Nobelpreiskomitee. An den Fassaden des legendären Centre-Courts rankt der Efeu, die grosse Anzeigetafel, an der alle Paarungen des Tages angebracht sind, wird noch von Hand bedient. Der Resultat-Chronist steigt mit einer Holzleiter zu den oberen Reihen.
Kultur und Geschichte werden hier mit Samthandschuhen angefasst wie in einem Museum. In einem exklusiven Bereich werden den Spielerinnen und Spielern «Tea and Scones» serviert. Es ist alles so «very British», dass man immer das Gefühl hat, Butler James aus «Dinner for One» komme gleich um die Ecke und stolpere über ein Tigerfell.
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Siegerin vor 26 Jahren
Vor dem Turniergelände warten Menschen in einer mehrere hundert Meter langen «Queue» auf Resttickets. Obwohl von der Schlange weder der Anfang noch das Ende auszumachen ist, scheinen sie es zu geniessen. So sind sie Teil der Veranstaltung, ohne dabei zu sein. «Queuing» gilt neben Cricket und Rugby als dritte englische Nationalsportart. Diese Atmosphäre geniesst Martina Hingis: «Es macht mir heute fast noch mehr Freude, über das Gelände zu gehen, als zu meiner aktiven Spielerinnenzeit. Damals fand ich das Turnier nicht immer lustig.» Die Regenpausen und die Wartezeiten hätten es schwierig gemacht. Ein Dach über den wichtigsten Plätzen gab es damals nicht. Heute kann sie entspannen: «Der Druck ist weg.»
Dieser Artikel wurde erstmals in der der «Schweizer Illustrierten» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.schweizer-illustrierte.ch.
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Die 42-jährige Ostschweizerin gewinnt das bekannteste Tennisturnier der Welt im Juli 1997 im Final gegen Jana Novotna. Sie ist damals 16 Jahre jung. Ein Jahr zuvor hat sie an der Seite von Helena Sukova schon im Doppel triumphiert. Mit beiden Erfolge setzt sie Massstäbe für die Sportgeschichte: Sie ist die jüngste Wimbledon-Turniersiegerin des 20. Jahrhunderts. Den in Wimbledon obligatorischen Hofknicks bringt ihr eine Turniermitarbeiterin bei: «Das war sehr speziell.» Hingis lacht, wenn sie davon erzählt. Aus ihren Augen leuchtet der Schalk. Ihr Gleichgewicht hat sie nach privat schwierigen Zeiten mit zwei gescheiterten Ehen gefunden. Sie ist stolze Mutter der vierjährigen Lia und steht nur noch zwei-, dreimal pro Woche auf dem Tennisplatz. «Dafür kenne ich jeden Spielplatz und jede Hüpfburg in der Nähe unseres Wohnorts.» Ihre Welt hat sich verändert: «Meine Fans sind in die Jahre gekommen. Ich muss nur noch älteren Damen und Herren Autogramme geben.»
Der erste Schweizer Superstar
Die Ostschweizerin war ihrer Zeit immer voraus – so weit, dass sie die Schweizer Öffentlichkeit mit ihren Erfolgen leicht überforderte. In einem Land, das vor allem den alpenländischen Stars aus der überschaubaren Skiszene zujubelt und Schwingerkönige zu den Sportlern des Jahres wählt, war man auf einen Superstar in einer Weltsportart nicht gefasst.
So sind die Würdigungen und Respekterweisungen, die Hingis in London erfährt, weit grösser als diejenigen in der Schweiz: «Die Engländer haben einen ausgeprägten Sinn für Sportgeschichte», sagt sie. Dieser drückt sich auch auf der hölzernen Ehrentafel im Spielerrestaurant aus, auf welcher der Name Hingis zwischen Steffi Graf und Jana Novotna verewigt ist. 2013 wird sie in die Hall of Fame des internationalen Tennissports aufgenommen, noch niemand aus der Schweiz hat das bisher geschafft.
In der Schweiz dagegen schafft sie es nicht einmal in die Vorselektion zur Sportlerin des Jahrhunderts. Und dennoch spürt sie mittlerweile grössere Wertschätzung: «Der Dok-Film des Schweizer Fernsehens vor einem Jahr hat das Bild von mir zum Positiven korrigiert.»
«Ihr haben wir alles zu verdanken»
In Wimbledon sind die einstigen Stars des Spiels allgegenwärtig, nicht nur im Legendenturnier. In diesem spielt Hingis an der Seite der Belgierin Kim Clijsters, 40, mit und wuchtet die Bälle übers Netz, als wäre sie noch immer Profispielerin. Auf dem Weg zum Court trifft sie Martina Navratilova, der Hingis ihren Vornamen verdankt, und im Spielerrestaurant begegnet sie der vielleicht wichtigsten Persönlichkeit in der Geschichte des Frauentennis: Billie Jean King, zwölffache Grand-Slam-Siegerin, sechsfache Wimbledon-Championne und Vorkämpferin für Chancengleichheit der Geschlechter. Die Begegnung ist überaus herzlich und von grossem Respekt geprägt. Hingis sagt berührt: «Ihr haben wir alles zu verdanken. Ohne sie wäre das Frauentennis heute nicht dort, wo es ist.»
In diesem Moment spricht Hingis fast wie ein Fan. Als solcher fühlt sie sich auch, als sie ihre Kollegin Belinda Bencic, 26, ein paar Tage zuvor von der Tribüne aus beobachtet. Dass die letzte Schweizerin im Turnier im Achtelfinal dramatisch an der Weltranglistenersten Iga Swiatek scheitert, nervt Hingis: «Es gibt keine schöne Art, aus einem Turnier auszuscheiden, aber nach einer derart guten Leistung und zwei Matchbällen ist es noch ärgerlicher.»
Ihre Erfahrungen im Spitzensport und das Gespür für das Spiel bringt Hingis nun als Co-Kommentatorin des Schweizer Fernsehens ein. Ihr Debüt gibt sie im Juni in Paris. «Es ist eine Aufgabe, bei der ich meine Komfortzone verlassen muss.» Und sie geht die Herausforderung ähnlich an wie früher vor einem Spiel: «Ich schalte ab und tauche in einen Tunnel. Letztlich ist es wie im Sport: Vorbereitung ist alles.»
«Sie war so jung und so gut»
Reporter Stephan Liniger ist voll des Lobes für seine Assistentin: «Martina ist mit ihrem Fachwissen und ihrer Erfahrung eine grosse Bereicherung. Als Aktive hat sie praktisch jede Situation durchgemacht. Deshalb kann sie das Spiel lesen wie kaum eine andere.» Davon profitiert nun auch Kim Clijsters. Im vergangenen Jahr gewann sie an der Seite von Martina Hingis das Legendenturnier. Und noch immer erinnert sich die Belgierin sichtlich beeindruckt an ihre erste Begegnung mit Hingis im WTA-Zirkus: «Als Martina auf die Tour kam, war dies wie eine Offenbarung. Sie war so jung – und so gut. Und sie spielte extrem intelligent und variantenreich.»
Seither ist über ein Vierteljahrhundert vergangen. Aber wer Martina Hingis in Wimbledon beobachtet, wähnt sich auf einer Zeitreise. «Ich fühle mich heute viel wohler hier.» Es scheint, als besässe die fünffache Grand-Slam-Siegerin eine Gabe, wovon viele Menschen träumen: Sie kann die Zeit anhalten.