Am Mittwoch verliessen Stan Wawrinka und Andy Murray gemeinsam den leeren Court Central «Philipp Chatrier» in Roland Garros nach einem gemeinsamen Training. Ein Anblick mit Symbol-Charakter. Zwei vergangene Grand-Slam-Grössen, die viel gemeinsam haben.
Mit je drei Major-Titeln durchbrechen die beiden in den letzten zehn Jahren als einzige wiederholt die Phalanx der grossen Drei – Federer, Nadal, Djokovic. Doch sind der 35-jährige Wawrinka und der nur zwei Jahre jüngere Murray auch ernstzunehmende künftige Grand-Slam-Champions?
Alle zittern vor Stan, glaubt Severin Lüthi
Wer auf dem besseren Weg ist, entscheidet sich gleich zu Beginn der French Open, also heute (ca. 17 Uhr). Das Schicksal will es, dass der auf Rang 17 klassierte Romand und der schottische Wildcard-Empfänger (ATP 111) in Runde 1 aufeinander treffen. Ein veritabler Kaltstart für beide.
«Es ist das wohl meist beachtete Spiel am Starttag von Roland Garros», sagt sein Freund und früherer Mentor Severin Lüthi, «eine ganz spezielle Auslosung.» Der Federer-Coach will sich das Spiel nicht entgehen lassen. Aus der Ferne in der Schweiz, denn er ist nicht nach Paris gereist.
Lüthi glaubt, dass Wawrinka auch mit 35 nicht abzuschreiben ist – vor allem aufgrund seiner langen Erfahrung. Stan sei bestimmt parat für diese Herausforderung Murray. «Wie alle müssen auch diese beiden erst ins Turnier finden. Und sollte Stan die frühere Weltnummer 1 packen, kann es für den weiteren Verlauf ein Vorteil sein, schon ein hartes Match gemeistert zu haben.» Gerade in dieser Corona-Sondersituation könne es viele Überraschungen geben. Und wenn Stan erst einmal heiss gelaufen ist, könne er bekanntlich jedem Gegner gefährlich werden. Für Lüthi ist klar: «Gegen ihn werden auch Nadal oder Djokovic unruhig.»
In der Zwischenzeit viel passiert
Die heutige Affiche ist ein Remake des heissen Halbfinal-Knüllers aus dem Jahr 2017, der im fünften Satz an «Stan the Man» ging. Allerdings ist in der Zwischenzeit viel passiert. Bei beiden. Der brutale Paris-Kampf war der Auslöser für Murrays schwerwiegende Hüftprobleme, die ihn später zur Operation und zum (temporären) Rücktritt zwangen. Wawrinka liess sich im Anschluss zweimal am Knie operieren und fiel lange aus. Beide sind zurück. Aber beide scheinen nicht vollends bereit für die ganz grossen Taten, die spätestens in einem allfälligen Viertelfinal gegen US-Open-Sieger und den Finalisten der letzten zwei French Open, Dominic Thiem folgen müssten.
Sicher, Wawrinka war und ist wohl immer noch der Mann der wichtigen Gelegenheiten. Seine grössten Erfolge feierte er bis zu Beginn dieses verflixten Corona-Jahres an Grand Slams – allen voran in Paris. An den letzten drei Majors erreichte er jeweils die Viertelfinals, eliminierte auf dem Weg dorthin stets grosse Namen.
Aber die Geschehnisse der letzten Wochen rufen Zweifel hervor. Nach halbjähriger Zwangspause sucht Stan auf der Challenger-Tour Spielpraxis. Das erste Turnier in Prag gewinnt er, das zweite gibt er wegen einer Oberschenkelverletzung auf. Offenbar nicht genug Vorbereitung für den ersten Match auf höherem Niveau beim Masters in Rom, wo er am 18-jährigen Qualifikanten Lorenzo Musetti (ATP 249!) 0:6, 6:7 scheitert.
Severin Lüthi will diese Pleite nicht überbewerten. «Die Match-Praxis auf der Challenger Tour war sicher eine gute Sache. Und die Bedingungen in Paris liegen Stan, das hat die Vergangenheit gezeigt.»
Trennung von Erfolgstrainer
Eine andere mögliche Erklärung für Wawrinkas Rom-Baisse ist die wohl endgültige Trennung von seinem langjährigen, schwedischen Erfolgstrainer Magnus Norman. Die erste Trennung während seiner Verletzungspause in der zweiten Jahreshälfte 2017 warf den sensiblen Stan völlig aus der Bahn. Ein kurioses Timing also für einen Neustart – so kurz vor dem erklärten Saison-Höhepunkt des Schweizers, für den er auch die US Open ausliess.
«Ich bin ihm derzeit nicht so nah, dass ich das wirklich beurteilen kann», tappt Lüthi diesbezüglich im Dunkeln. Als Berater seines Westschweizer Freundes sehe er sich nicht mehr. «Er hat mich schon lange nicht mehr nach Rat gefragt, ist in seinem eigenen Team gut beraten. Grundsätzlich denke ich: Paris ist zu wichtig für ihn – Stan hat bestimmt Lösungen bereit.
Eine heisst Daniel Vallverdu, der letzte verbliebene Coach im Wawrinka-Stab – der allerdings auch noch die Weltnummer 4 der Frauen, Karolina Pliskova (Tsch) betreut. Pikant vor Stans Auftakt in Roland Garros: Der Venezolaner diente zuvor schon als Trainer von Andy Murray.