Wo Carlos Alcaraz auftaucht, da sind die Massen. Kein anderer Tennis-Star weckt beim Masters-Turnier in Madrid so viel Interesse wie der 19-jährige Lokalmatador. Wohl höchstens Rafael Nadal (36) und Novak Djokovic (35), die beide verletzungsbedingt für den 1000er-Event passen müssen, hätten eine Begeisterung ähnlichen Ausmasses ausgelöst. Experten sind sich aber einig: Mit dem jungen Mann aus El Palmar wird eine neue Ära eingeläutet. «Die Zeit von Alcaraz ist jetzt da», titelt etwa die grosse spanische Sportzeitung «Marca».
Als Alcaraz nach einer Trainingseinheit in Richtung Garderobe läuft, baut sich vor ihm in Windeseile eine menschliche Mauer auf. Wer nicht in der ersten Reihe nach einem Selfie oder Autogramm fragen kann, wird kreativ. Huckepack, Schultersitz, zig Smartphones, die maximal hoch in die Luft gestreckt werden. Einfach irgendwie einen Blick auf «Carlitos» erhaschen, den neuen Superstar, der nicht viel älter ist als die meisten der hier kreischenden Fans.
Alcaraz berührt die Menschen in Spanien, weil er wie der nette Junge von nebenan wirkt. Auf dem Boden geblieben, fröhlich, anständig. Ein Teenie, der grosser Real-Madrid-Fan ist, Golf und Basketball mag. Und natürlich: in so jungem Alter auf faszinierend unbeschwerte Art und Weise supererfolgreich ist. Er hat schon jetzt drei Masters-Titel im Sack, gewann 2022 die US Open und wurde damit die jüngste Weltnummer eins der Geschichte.
Da ist es kein Wunder, zeigt eine aktuelle Studie von «Personality Media» auf, dass in den letzten zwei Jahren kein anderer spanischer Sportler mehr an Popularität dazugewonnen hat wie er. Alcaraz stellt im sport- und vor allem fussballverrückten Land momentan alle in den Schatten.
«Ich hoffe, er bleibt so»
«Trotz seiner Bescheidenheit hat er schon jetzt diesen gewissen Glamour-Faktor. Es ist verrückt, wie er die Leute in seinen Bann zieht. Nicht nur mit seinem Tennis, das auf jeden Fall besonders ist, weil in jeder Partie unglaubliche Dinge passieren. Sondern auch mit seiner Persönlichkeit. Er ist immer freundlich, lacht viel. Die Leute mögen das. Und ich hoffe, er bleibt auch so», sagt José Morgado, der stets bestens informierte Tennis-Journalist von «Sport TV», der auf Twitter grosse Reichweite generiert.
Alcaraz’ Auftritt in Madrid ist gewohnt lässig. Beim offiziellen Medientermin erscheint die aktuelle Weltnummer zwei gut gelaunt, im orangen Pulli und in farblich passenden Schuhen. Und schart eine enorme Anzahl an Presseleuten um sich. Heim-Druck? Spürt er ganz im Gegensatz zur spanischen Top-Spielerin Paula Badosa (25), die offen zugibt, im eigenen Land alles andere als locker auftreten zu können, überhaupt nicht. Zumindest sagt er das. Nach seinem jüngsten Sieg in Barcelona hat er ohnehin gut reden, die erste heimische Aufgabe hat er mit Bravour gelöst. Er meint: «Ich möchte den Leuten einfach Freude schenken.»
Seine klaren, direkten Aussagen passen zu seinem Motto, das er sich auf den linken Unterarm tätowieren liess. Da steht dreimal der Buchstabe «C», für «Cabeza, Corazon, Cojones». Also: Kopf, Herz, Eier. Seine Gegner sagen von ihm, genau so spiele er auch auf dem Platz. Stefanos Tsitsipas (24), den Alcaraz vor Wochenfrist im Barcelona-Final besiegte, meint: «Er ist mental stark, arbeitet extrem hart – und seine Kraft, Flexibilität und Geschwindigkeit auf dem Platz sind immens.»
«Ich will nicht Rafa sein»
Allerspätestens seit seinem ersten Masters-Titel 2022 in Miami wird Alcaraz die Vergleiche mit dem 22-fachen Grand-Slam-Sieger und Landsmann Nadal nicht mehr los. Sie ehren ihn, doch Fragen, die auf Nadals Erfolge und Rekorde abzielen, beantwortet er immer gleich: «Ich will nicht Rafa sein. Ich möchte meine eigene Geschichte schreiben.»
Trotzdem kommen die Parallelen nicht von ungefähr, wie auch Journalist Morgado findet: «Natürlich erinnert er an Rafa. Gerade was die Intensität im Spiel betrifft. Es scheint oft, als würde er auf einem ganz anderen Level spielen. Ja, als würde er einen anderen Sport ausüben.» Nicht selten sind Alcaraz’ Widersacher mit dem Tempo überfordert, selbst wenn der Spanier nicht seinen besten Tag einzieht. So wie bei seinem ersten Auftritt in Madrid am Freitag, als er gegen den Finnen Emil Ruusuvuori (24) arg in Bedrängnis kommt, sich während der Partie aber mächtig steigert (2:6, 6:4, 6:2). Und so das heutige Drittrundenspiel gegen Grigor Dimitrov (31) klarmacht.
Auch Morgado ist der Meinung, dass die Tennis-Zukunft – unter der Voraussetzung, dass der Murcianer von Verletzungen verschont bleibt – klar Alcaraz gehört: «Er wuchs zur Blütezeit von Roger Federer, Nadal und Djokovic auf. Und es macht für mich den Anschein, als hätte er von allen etwas mitgenommen, was natürlich die perfekte Kombination ist.»
Ferreros ausgezeichnetes Gespür
Hinzu kommt die verblüffende körperliche Verfassung, in der sich der Rechtshänder mit 19 bereits befindet. «Er ist physisch auf einem so hohen Level, dass er alle anderen alt aussehen lässt. Bleibt er gesund, weiss ich nicht, ob es bei ihm ein Limit gibt», sagt Marc-Andrea Hüsler (26). Den mit ATP-Rang 76 aktuell bestklassierten Schweizer beeindruckt vor allem Alcaraz’ enorme Entwicklung während dessen Jugendzeit: «Ich habe ihn vor vier Jahren bei einem Challenger-Turnier in Italien spielen gesehen. Er war schon da mit Coach Juan Carlos Ferrero (43) unterwegs. Ich dachte, der Junge hat Qualität. Aber ich habe noch nicht erkannt, was Ferrero schon damals in ihm gesehen hatte.»
Nun, das Auge des früheren Top-Spielers war offensichtlich gut. Ferrero schliff einen Rohdiamanten, der in der Tennisszene nun am stärksten funkelt. Gerade auch, weil es bei den angeschlagenen Nadal und Djokovic vor den French Open Ende Mai noch viele Fragezeichen gibt. Morgado sagt: «Ich bin gespannt, wie und ob Djokovic und Nadal demnächst zurückkehren. Aber so oder so: Alcaraz kann momentan jedes Turnier gewinnen.»