Als Marco Odermatt am Mittwochmorgen den ersten Blick auf sein Handy wirft, traut er seinen Augen nicht. Von seinem Nidwaldner Kumpel Semyel Bissig hat der dreifache Gesamtweltcupsieger per Whatsapp die Meldung erhalten, dass der achtfache Gesamtweltcupsieger Marcel Hirscher nach fünf Jahren im alpinen Ruhestand sein Comeback geben will.
«Im ersten Moment glaubte ich an einen Witz. Aber nachdem ich die ganze Story online im Blick gelesen hatte, war mir klar, dass es sich doch nicht um einen verspäteten April-Scherz handelt.» Und Odermatt fügt an: «Ich finde es richtig cool, dass Hirscher zurückkommt. Für das internationale Ansehen des Skisports ist das fantastisch, zumal Marcel künftig für Holland fahren wird.»
«Ich kann dieses Duell kaum erwarten»
Ähnlich euphorisch fällt die Reaktion auf die überraschendste Rückkehr in der Ski-Geschichte bei dem Mann aus, der zwischen 2011 und 2019 13-mal hinter Hirscher den zweiten Rang belegt hat: Deutschlands Riesen- und Slalom-Legende Felix Neureuther (40). «Es kommt nicht oft vor, dass mir die Worte fehlen. Aber als mich Marcel am Dienstagabend über seine Zukunftspläne informierte, hat es mir für einen Moment die Sprache verschlagen», gesteht der Bayer. «Aber etwas Besseres als dieses Hirscher-Comeback kann unserem Sport nach den unzähligen negativen Schlagzeilen im letzten Winter gar nicht passieren.»
Für Neureuther ist der Fall klar: «Die Ski-Fans werden nun in den Genuss des Zweikampfes zwischen den beiden Ausnahme-Athleten Marco Odermatt und Marcel Hirscher kommen. Ich kann dieses Duell kaum erwarten.»
Druck auf Odermatt ist grösser
Aber wird Hirscher nach einer derart langen Pause und mit 35 Lenzen auf dem Buckel tatsächlich in der Lage sein, Odermatt in seiner absoluten Blütezeit das Rennfahrer-Leben zu erschweren? «Normalerweise ist so etwas nicht möglich. Aber weil es sich bei Hirscher eben um einen absoluten Ausnahme-Typen handelt, ist in diesem Fall eben doch vieles möglich», glaubt Neureuther. «Marcel wird in Zukunft viel befreiter Ski fahren. Er wird nicht mehr derart heftig unter Druck stehen. Als er für die komplett alpin verrückten Österreicher gestartet ist, musste er mit riesigen Erwartungshaltungen zurechtkommen. In Holland, wo Ski lediglich eine Randsportart ist, wird das ganz anders sein.»
Dafür erhöht sich der Druck auf Odermatt. «Eigentlich kann ich in diesem Duell mit Hirscher nur verlieren», sagt der Nidwaldner zu Blick. Die Begründung des amtierenden Riesen-Olympiasiegers und Weltmeisters: «In den letzten Jahren wurde unzählige Male die Frage gestellt, wer der grössere Rennfahrer ist: Hirscher oder ich? Wenn ich in der besten Phase meiner Karriere langsamer sein sollte als Marcel, der aus der Ski-Pension zurückkommt, würde die Antwort auf diese Frage definitiv nicht zu meinen Gunsten ausfallen.»
Was gegen Hirscher spricht
Dabei sollte aber nicht vergessen werden, dass der Buochser dem Salzburger bereits den Meister gezeigt hat, als dieser im Weltcup-Zirkus noch als das Mass aller Dinge betrachtet wurde. Hirscher hat bei seinen bislang letzten Weltcup-Riesenslaloms im März 2019 in Kranjska Gora (Slo) und Soldeu (And) jeweils den sechsten Rang belegt, während Odermatt in diesen Rennen die Ränge 3 und 2 belegte. Und weil Hirscher seither in den Weltranglisten auf den 300. Rang (Slalom) und 777. Rang (Riesenslalom) zurückgefallen ist, wird er sich bei seinem Weltcup-Comeback mit einer ungünstig hohen Startnummer bewähren müssen.
Odermatt rechnet dennoch ganz stark mit dem siebenfachen Weltmeister und zweifachen Olympiasieger: «Marcel hat in den letzten Jahren mit dem von ihm entwickelten Van-Deer-Ski unzählige Testläufe und Trainingsvergleiche mit Henrik Kristoffersen absolviert. Er hat sehr wahrscheinlich mehr gewinnbringende Trainings-Feedbacks erhalten als ich, weil er im Gegensatz zu mir ja keinen Wettkampfstress hatte.»