Um Gottes willen, was ist bloss mit diesen Schweizern los?
Diese Frage stellen sich am Sonntagmorgen die beiden ORF-Kommentatoren Thomas König und Joachim Puchner, die in Chamonix wie unsere Skigenossen im Vier-Sterne-Hotel Le Prieure untergebracht sind. «Wir waren verwundert, wie frostig die Stimmung im Frühstücksraum war. Praktisch jeder Schweizer ist alleine an einem Tisch gesessen», erzählt König.
Nach dem ersten Slalom-Lauf am Fusse des Mont Blanc hellt sich im Schweizer Lager die Stimmung zwar bei Loïc Meillard ein bisschen auf, der als Fünfter in Schlagdistanz zum Podest ist.
Aber Daniel Yule schäumt zur Halbzeit vor Wut! Nach einem schweren Fehler kurz vor dem Ziel deutet lange Zeit alles darauf hin, dass der Walliser die Qualifikation für den zweiten Lauf verpasst. «Ich habe mich fürchterlich über mich geärgert und war in Gedanken bereits beim Kofferpacken im Hotel», gibt der 30-Jährige später zu Protokoll. Aber weil Schwedens Top-Talent Fabian Ax Schwartz (19) mit der Startnummer 58 letztlich fünf Hundertstel fehlen, qualifiziert sich Yule gerade noch als 30. mit einem Rückstand von 1,93 Sekunden auf Leader Clément Noël doch noch für den Final.
Erster Schweizer Slalom-Doppelsieg seit Donnet und Lüscher
Somit darf er den Entscheidungslauf auch eröffnen, was bei den frühlingshaften Bedingungen (15 Grad) ein richtig gutes Omen ist. Und tatsächlich gelingt Yule ein Traumlauf, sodass am Ende sogar Leader Clément Noël (Fr), der Halbzeit-Zweite Timon Haugan (No), der dreifache Saisonsieger Manuel Feller (Ö) sowie Weltmeister Henrik Kristoffersen trotz ihren riesigen Vorsprüngen hinter den heroischen Kämpfer aus La Fouly zurück. Einzig Loïc Meillard (27) kann lange mit seinem Teamkollegen mithalten, im Ziel liegt aber auch er hinten. Und somit schafft Yule als erster Athlet in der 57-jährigen Weltcup-Geschichte in einem Einzelbewerb den Sprung vom 30. auf den 1. Rang!
Ebenfalls historisch: Yule und Meillard bescheren uns den ersten Schweizer Slalom-Doppelsieg, seit der Unterwalliser Martial Donnet 1978 in Madonna di Campiglio vor dem Thurgauer Peter Lüscher triumphierte. «Es ist ein unglaublich schönes Gefühl, dass ich zusammen mit Loïc die Nationalhymne feiern darf. Aber es ist ganz klar, dass ich diesmal enorm von der Piste profitiert habe», sagt Yule nach seinem siebten Weltcupsieg.
Der Sohn von britischen Einwanderern wuchs knapp 20 Kilometer Luftlinie von Chamonix im Dreiländereck Schweiz, Frankreich, Italien auf. Dass er eines Tages zum erfolgreichsten Slalomfahrer in der Swiss-Ski-Geschichte avancieren könnte, hat der Mann mit dem abgeschlossenen Wirtschaftsstudium lange Zeit für unmöglich gehalten. «Deshalb habe ich auch parallel zum Rennsport die Matura gemacht und dann mit einem Fernstudium begonnen. Nach meinen ersten beiden mässigen FIS-Jahren habe ich mir gesagt, dass ich mit dem Skisport aufhöre, wenn es im dritten Jahr nicht besser wird. Doch dann ging es plötzlich aufwärts.»
«Trainings mit Loïc und Ramon sind oft deprimierend»
Daniel beginnt schallend zu lachen, wenn er an sein allererstes Skirennen zurückdenkt. «Ich war fünf, als bei uns in La Foully die Erika Hess Open ausgetragen wurden.» Die Pointe der Geschichte: «Ich habe sofort verstanden, dass ich bei einem Skirennen möglichst schnell von Start ins Ziel fahren soll. Dummerweise habe ich nicht kapiert, dass ich alle Tore umkurven muss. So bin ich von oben bis unten gerade an allen Toren vorbeigefahren. Im Ziel war ich mir sicher, dass ich gewonnen habe, war überzeugt, dass man diesen Kurs nicht schneller meistern kann. Entsprechend gross war meine Enttäuschung, als ich meinen Namen am Ende der Rangliste sah.»
Die hinteren Plätze belegt Yule auch in der Neuzeit noch regelmässig – und zwar in den teaminternen Trainingsläufen. «Für mich ist es manchmal brutal deprimierend, mit Loïc Meillard oder Ramon Zenhäusern zu trainieren. Obwohl auch ich im Training immer mein Bestes gebe, verliere ich dort im Vergleich mit ihnen brutal viel Zeit. Im letzten Winter habe ich eine einzige Trainingsbestzeit erzielt. Das war im österreichischen Hinterreit, als ich alleine trainierte...»
Warum er sich im Wettkampf immer wieder derart eklatant steigern kann, kann sich der Sprössling eines Lehrers selber nicht erklären. Es gibt aber auch eine Sparte, in der Yule im Training wie im Wettkampf richtig schwach ist. Gemeint ist unser Nationalspiel. Yule: «Ich habe dreimal am Jass-Turnier unseres Skiklubs teilgenommen – einmal Letzter, einmal Zweitletzter. Meine beste Klassierung war der drittletzte Rang.» Aber im Slalom dürfte Yule noch einige Jahre unser stärkster Trumpf bleiben. «Wenn nichts dazwischen kommt, möchte ich meine Karriere mindestens bis zur Heim-WM 2027 in Crans Montana fortsetzen.»