In einer der dunkelsten Stunden seiner Ski-Karriere wird Urs Kryenbühl vor Augen geführt, dass das Schicksal noch sehr viel härter zuschlagen kann. Es ist am 29. Dezember 2022, als der Schwyzer am Tag nach seinem starken Auftritt beim Abfahrts-Klassiker in Bormio (Rang 6) den Super-G auf der «Stelvio» nach wenigen Toren beenden muss. Sein Knie hat einen üblen Schlag abbekommen, die Schmerzen sind entsprechend heftig.
Auf dem Weg zur medizinischen Untersuchung beim Swiss-Ski-Doc in Zürich wird Kryenbühl im Prättigau erneut gestoppt. In der Nähe von Grüsch GR hat sich ein riesiger Stau gebildet, nachdem ein Auto mit einem Lastwagen kollidiert ist. Der PW-Lenker verstirbt noch an der Unfallstelle. «In diesem Moment ist mir bei allem Frust über meinen schmerzlichen Zwischenfall im Super-G bewusst geworden, dass es deutlich schlimmere Dinge gibt als meine Verletzung.»
Deshalb reagiert der 29-Jährige ziemlich gefasst, als er ein paar Stunden später nach dem MRI in der Hirslanden-Klinik die Diagnose Kreuzbandriss erhält. Am Tag danach bringt der 1,72-Meter-Mann ein paar Gedanken in lyrischer Manier zu Papier. «Um meine Diagnose richtig verarbeiten zu können, habe ich erstmals seit meiner Schulzeit ein Gedicht geschrieben.»
Den Rückschlag in Gedichtform verarbeitet
Der Kernsatz von Kryenbühls lyrischer Verarbeitung: «Ich weiss, oh Skirennsport, mein alter Kumpel, es ist oft schön mit Dir, aber manchmal auch etwas dunkel. Wie Brüder sind wir, oh Skirennsport, Glück und Leid auf dem Weg vereint. ‹Doch was ist nun genau geschehen?›, werden Dich jetzt viele fragen. ‹Ganz einfach›, werde ich sagen, ‹ein weiterer Kreuzbandriss hat sich zugetragen›.»
Im Normalfall dauert es mindestens sechs Monate, bis ein Skirennfahrer nach einem Kreuzbandriss auf die Piste zurückkehren kann. Doch Kryenbühl fährt bereits jetzt wieder richtig schnell Ski. Vergangene Woche absolviert der Speed-Spezialist ein Abfahrtstraining in St. Moritz GR. Wie ist das möglich? Urs, der im Weltcup bisher dreimal den Sprung aufs Podest geschafft hat, behandelt seine Kreuzbandverletzung konservativ. «Unmittelbar nach dem MRI hat mir der Arzt klargemacht, dass eine Operation unumgänglich sei.»
Mehr Ski alpin
Drei Ärzte, zwei Meinungen
Doch aufgrund der starken Blutungen im Knie war eine sofortige Operation nicht möglich. «Und nach ein paar Wochen hat mir ein anderer Arzt von einer Operation abgeraten. Ich war deshalb lange hin- und hergerissen und hatte einige schlaflose Nächte. Ich habe dann noch einen dritten Arzt um seine Meinung gebeten. Nachdem sich auch dieser gegen eine Operation ausgesprochen hat, habe ich mich für eine konservative Behandlung entschieden.»
Zur Erinnerung: Nach der im Januar 2021 in Kitzbühel (Ö) erlittenen Kreuzbandverletzung hat Kryenbühl ebenfalls auf einen operativen Eingriff verzichtet. Die jüngsten Trainingsleistungen nähren die Hoffnung, dass diese Entscheidung richtig war. «Urs fährt schon wieder richtig gut Ski», schwärmen die beiden Abfahrt-Co-Trainer Willi Dettling und Mathias Briker. Es spricht also einiges für ein Happy End in diesem Abfahrer-Drama.