Sieben Rennen waren bislang angesetzt, keines fand statt. Die Bilanz der visionären Zweiländer-Abfahrt am Matterhorn ist auf den ersten Blick mager. Während 2022 zu wenig Schnee lag, treiben derzeit der viele Neuschnee und der Wind die Organisatoren in Zermatt und Cervinia zur Verzweiflung. «Der Stachel sitzt tief», gibt OK-Boss Franz Julen (65). «Die Natur hat das letzte Wort. Wir sind den Athletinnen reguläre Rennen schuldig. Und das ist heute nicht möglich», meint er im Zielraum auf 2840 Meter über Meer.
Während Julen spricht, pfeift ihm der Wind um die Ohren. So ergeht es auch Beat Tschuor, dem Frauen-Cheftrainer. Er meint: «Es ist extrem bitter, für alle. Der Frust ist gross. Vielleicht haben wir am Sonntag eine kleine Chance, aber es bleibt schwierig.»
Die Absage am Samstag ist Wasser auf den Mühlen jener, die ein November-Rennen in dieser hochalpinen Lage für unmöglich halten. Julen kontert: «Das ist nicht richtig. 2018 war es ähnlich wie jetzt, wir hatten drei oder vier Wochen lang instabiles Wetter wie heute. 2020 war es fast einen Monat lang perfekt. Insgesamt zeigen unsere langjährigen Wetteraufzeichnungen, dass es immer wieder stabile, aber auch instabile Tage gibt. Derzeit haben wir nicht nur hier, sondern in ganz Mitteleuropa eine Sturmlage.»
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Fakt ist: Die Schlagworte Farce, Rohrkrepierer und Chaos machen weiterhin die Runde, wenn es um die Rennen am Matterhorn geht. Auch die Umweltbedenken sind gross – die Bilder des am Gletscher arbeitenden Baggers im Vorfeld des Speed-Openings sorgten für hitzige Diskussionen. Letztlich stellt sich mehr denn je die Frage: Hat dieser als visionär gepriesene Zweiländer-Event überhaupt eine Zukunft?
Es besteht ein Fünfjahresvertrag
Die Antwort ist schnell gegeben: Ja. Alle Sponsoren und auch der Host Broadcaster SRG haben Drei-, Vier- oder Fünfjahresverträge. «Bis dann läuft unsere Planung», sagt OK-Chef Franz Julen. Neben dem soliden finanziellen Fundament besteht eine Fünfjahresstrategie zwischen den involvierten Verbänden Swiss-Ski, FISI (Italienischer Skiverband) und der FIS (Weltskiverband). Alle wollen das Projekt durchziehen.
Aber was heisst Strategie? Gemäss Blick-Informationen ist es mehr als nur eine Strategie – es gibt auch eine schriftliche Vereinbarung. «Ja, die FIS, die beiden nationalen Verbände und das lokale OK haben einen schriftlichen Vertrag über 5 Jahre abgeschlossen», bestätigen Swiss-Ski CEO Diego Züger und OK-Präsident Franz Julen unisono.
März? Nein, es bleibt beim November
Die Rennen am Matterhorn werden weiterhin im November stattfinden – eine Verlegung in den März, die von den ehemaligen Ski-Assen Marc Berthod (39), Hans Knauss (52, Ö) und Felix Neureuther (39, De) angedacht wurde, ist keine Option. Auch wenn das Wetter dann möglicherweise stabiler wäre. «Der entscheidende Grund ist, dass die Rennen dann nicht finanzierbar wären. Das Interesse der Sponsoren ist deutlich geringer und viele denken schon an den Sommer», so Julen.
Dazu kämen der grössere Aufwand am Gletscher, die ausgebuchten Hotels und die Sperrung der Piste für die Touristen, wie der 65-Jährige erklärt. «Die gesamte Zielinfrastruktur können wir im Winter nicht ins Ziel auf 2850 Meter transportieren. Da liegt Schnee und die im Herbst benutzte Strasse ist im Winter eine Skipiste.»
Die nächsten November-Daten stehen bereits
Die FIS ist eine der treibenden Kräfte des Speed-Openings. Für Präsident Johan Eliasch ist es gar ein Prestigeobjekt. Da stellt sich die Frage: Warum veröffentlicht die FIS nicht endlich einen Long-Term-Calendar, also einen provisorischen Ski-Kalender für die nächsten 3 bis 5 Jahre?
Das war früher üblich; viele Stakeholder nervte es schon lange, dass es keinen solchen Kalender gibt – schliesslich wollen alle Planungssicherheit. Lange wehrte sich Eliasch gegen diesen logischen Schritt, weil er zuerst seine Pläne der Zentralvermarktung durchboxen wollte. Damit kam er nicht durch – oder noch nicht.
Beim FIS-Herbstmeeting in Zürich Ende September wurde dann endlich ein Kalendervorschlag bis 2026 vorgelegt – er wurde daraufhin bestätigt. Blick hatte Einblick in die Kalender, die aufgelegt wurden. Darin ist zu sehen, dass alle Schweizer Rennen bestehen bleiben: Adelboden, Wengen, St. Moritz und Crans-Montana. Und eben: Zermatt/Cervinia. 2024 sind die Rennen am 9. und 10. (Männer) sowie am 16. und 17. November (Frauen).
Man will alles kritisch hinterfragen
Zurück an den Fuss des Matterhorns, wo das Speed-Opening in der Zweijahresbilanz aus sportlicher Sicht nicht zufriedenstellend verlief. «Das ist zweifellos so. Trotz der Komplexität dieses Zweiländerprojekts waren wir organisatorisch auf der Höhe. Wir wollten allen Teams im Vorfeld der Rennen gute Trainingsmöglichkeiten und dann vor allem Wettkämpfe bieten. Leider hat uns die Natur einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht», sagt Julen.
«Wir werden uns in den nächsten Wochen und Monaten mit allen Partnern zusammensetzen und alles kritisch hinterfragen. Wenn weitere Verbesserungen möglich sind, werden wir diese auch angehen.»
Was Verbesserungen betrifft, sieht Züger schon jetzt einen Punkt, den man unbedingt angehen müsse. «Beim Thema Nachhaltigkeit müssen wir noch aktiver werden und proaktiver kommunizieren. Der Bagger auf dem Gletscher ist ein gutes Beispiel dafür. Es braucht diese Arbeiten, um die Spalten zu füllen und damit die Sicherheit zu gewährleisten. Wir versuchen, solche Arbeiten, die grundsätzlich nichts Neues sind, auf ein Minimum zu reduzieren. Bis wir das den Menschen aber erklärt haben, hatten viele schon das Bild im Kopf, dass er das Eis zerstören würde. Dass das Füllen von Spalten den Gletscher aber nicht zerstört, bestätigen auch Glaziologen.»
Was am Ende bleibt? Die Erkenntnis, dass die Rennen am Matterhorn so schnell nicht verschwinden dürften. Auch bei den Gesprächen mit den Versicherern sei man auf gutem Weg, so Züger.
Und sowieso: «Mit der SRG, die die Rennen produziert, und dem Medienrechtspartner Infront haben wir sehr wichtige Verbündeten, die an dieses Projekt glauben. Auch bei unseren Partnern und Sponsoren überwiegt das Positive bei weitem. Selbst am Männer-Wochenende, das komplett abgesagt werden musste, war die Stimmung in Zermatt sehr gut. Man freute sich, so bitter es eigentlich war, über den Wintereinbruch.»
Ist das Projekt «Too big to fail»?
Einen Imageschaden befürchten weder Züger noch Julen. «Im letzten Jahr gab es auch Kritik und wir hatten den besten Winter aller Zeiten. Der über Jahrzehnte aufgebaute Mythos Zermatt-Matterhorn mit unserem touristischen Topangebot ist stärker als wegen zu viel Neuschnee abgesagte Weltcup-Rennen», meint Julen.
Tatsächlich hat Zermatt Tourismus berechnet, dass alleine 2022 der Werbewert des abgesagten Speed-Openings 93 Millionen Franken betragen habe – und das bei einer potenziellen Reichweite von 3,5 Milliarden Menschen. Auch wenn diese Zahlen in diesem Jahr noch höher sein werden, sind sie stets mit Vorsicht zu geniessen. Dennoch sei die Frage erlaubt: Ist Zermatt/Cervinia derzeit «Too big to fail»? Also zu gross und wichtig, um zu scheitern – Absagen hin oder her? «Eine gute Frage», sagt Züger schmunzelnd – er hätte nichts dagegen, wenn dem so wäre.