Ski-Ass Michelle Gisin geht am Ende der Welt in sich
«Ich habe mich verzettelt»

Michelle Gisin (29) schleift im argentinischen Ushuaia an Form und Material. Nach einem Winter zum Vergessen hat sie mehrere Weichen neu gestellt und blickt schon auf Olympia 2026.
Publiziert: 06.09.2023 um 20:42 Uhr
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Aktualisiert: 07.09.2023 um 08:53 Uhr
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Auf einen neuen Winter! Im argentinischen Ushuaia schleift Michelle Gisin (vorne) an Form und Material. Es gibt viel zu tun.
Foto: Zvg
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Mathias GermannReporter Sport

Blick: Michelle Gisin, Sie bereiten sich in Argentinien auf die Saison vor. Wie läufts?
Michelle Gisin: Wir hatten leider bislang keine einfachen Bedingungen. Zuerst war es warm, dann kamen Kälte und Schneefall. Aber wir machen das Beste draus.

Worauf fokussieren Sie sich?
Auf den Riesenslalom. Ich will und muss diese Disziplin wieder gut hinkriegen. Sie ist die Basis für alle anderen Disziplinen. Und ich gehe zurück zu den Wurzeln.

Was heisst das?
Dass ich mit demselben Ski und Schuh, ohne gross zu testen und zu pröbeln, aktuell wieder meine Technik stabil aufbauen muss. Da kommen mir auch schlechtere Bedingungen sehr gelegen, weil da musst du sehr stabil auf dem Ski stehen.

Nach sechs Jahren haben Sie letzten Winter erstmals keinen einzigen Podestplatz geholt. Der Tiefpunkt war die WM, als Sie weit weg von einer Medaille waren.
Es ist viel über mich hereingebrochen. Am meisten geschmerzt hat mich, dass ich im Riesenslalom überhaupt nicht auf Touren kam.

Der Wechsel von Rossignol zu Salomon hat Sie aus der Bahn geworfen, oder?
Nicht aus der Bahn geworfen, aber kurz vor Levi musste ich aufgrund einer Entzündung meine Schuhgrösse wechseln. Ab da haben wir mit der Abstimmung gekämpft, vor allem als ich nach dem Sturz im ersten Rennen mein Vertrauen Schritt für Schritt verlor.

Das ist Michelle Gisin

Michelle Gisin (30) ist Teil einer skibegeisterten Familie. Ihre Schwester Dominique (38) wurde 2014 Abfahrts-Olympiasiegerin – und auch ihr Bruder Marc (35) gehörte zur erweiterten Weltspitze. 2018 und 2022 holte Michelle Gisin in der Kombi jeweils Olympia-Gold. Seit dem letzten Sommer gehört sie zum Schweizer Speed-Team, allerdings holte Gisin ihre zwei Podestplätze des Winters im Slalom. Sie will mindestens bis 2026 weiterfahren. Die Engelbergerin ist mit dem italienischen Skifahrer Luca De Aliprandini (33) liiert, sie leben zusammen in Riva del Garda (I).

Michelle Gisin lebt mit ihrem Freund, dem italienischen Riesenslalom-Spezialisten Luca de Aliprandini, am Gardasee.
Kurt Reichenbach

Michelle Gisin (30) ist Teil einer skibegeisterten Familie. Ihre Schwester Dominique (38) wurde 2014 Abfahrts-Olympiasiegerin – und auch ihr Bruder Marc (35) gehörte zur erweiterten Weltspitze. 2018 und 2022 holte Michelle Gisin in der Kombi jeweils Olympia-Gold. Seit dem letzten Sommer gehört sie zum Schweizer Speed-Team, allerdings holte Gisin ihre zwei Podestplätze des Winters im Slalom. Sie will mindestens bis 2026 weiterfahren. Die Engelbergerin ist mit dem italienischen Skifahrer Luca De Aliprandini (33) liiert, sie leben zusammen in Riva del Garda (I).

Sie hatten vor dem Winter gesagt: «Der Wechsel zu Salomon kann auch in die Hose gehen.» Eine Vorahnung?
Vor allem wusste ich, dass es auf vier Disziplinen nicht selbstverständlich sofort klappen wird. Die grösste Herausforderung war der Skischuh. Mein rechter Fuss ist ein Zentimeter länger als der linke. Daher die Probleme vor dem Saisonstart. Aber im Skirennsport kann man nicht einfach sagen: «Ich nehme eine Schuhnummer grösser und die Probleme sind gelöst.» Da stimmen die Hebel plötzlich überhaupt nicht mehr.

Und einen neuen Skischuh kann man mitten in der Saison nicht bauen. Haben Sie das mit Salomon nachgeholt?
Nein, ich fahre wieder einen kleineren Skischuh. Aber wir haben sehr viel vom letzten Winter gelernt. Jetzt passt alles. Das ist eine grosse Erleichterung.

Sie haben sich im letzten Winter über die ständigen Fragen nach den Materialproblemen genervt.
Weil das nur ein Teil des Problems war. Ich selbst habe Fehler gemacht.

Welche?
Vor dem Saisonauftakt in Sölden war ich super nervös, voller Energie. Dann wurde das Rennen abgesagt, und ich konnte die ganze Anspannung nicht loswerden, sondern es staute sich an. Es kam der Slalom in Levi, wo ich gestürzt bin. Ich verlor mein Vertrauen und hatte Mühe, es wiederzufinden.

Der Start war schlecht, einverstanden. Aber Sie sind 29 und seit elf Jahren im Weltcup. Half diese Erfahrung nicht, um gelassen zu bleiben?
Vielleicht lief es mir in den Jahren davor zu gut. In der Vorsaison litt ich den ganzen Sommer am pfeifferschen Drüsenfieber. Ich stieg fast ohne Training in den Winter, hatte kaum Erwartungen. Und was geschah? Es war super.

Sie holten damals Spitzenplätze in Serie, gewannen Gold und Bronze bei den Olympischen Spielen.
Das war wie ein Wunder. Klar, dass ich danach so weitermachen wollte, schliesslich ging es mir körperlich bereits um einiges besser. Meine Erwartungen waren in der letzten Saison sicher gross – und da ich eine sehr emotionale Skifahrerin bin, liessen mich die schlechten Läufe nicht kalt.

Wie meinen Sie das?
Ich liebe das Skifahren so sehr, dass ich auch nach so vielen Jahren enttäuscht bin, wenn ich nicht gut fahre. Der Super-G funktionierte gut, da wurde ich Vierte, Fünfte und Sechste – es war also nicht alles schlecht. Auf der technischen Seite war es jedoch schwieriger. Auch wenn ich ab und zu im Riesenslalomtraining gute Schwünge spürte, kriegte ich sie nicht in die Rennen. Das nagte weiter am bereits angeschlagenen Vertrauen.

Konnte niemand helfen?
Es kamen von überall her Inputs, viele wollten helfen. Jeder hatte eine andere Meinung, was ich ändern sollte. Ich war sehr dankbar, hätte in diesen Momenten aber mehr auf mich hören, auf mein Gefühl. Ich habe die Informationen von aussen nicht mehr gefiltert, sondern mich verzettelt.

Als einzige Frau fuhren Sie jedes der 42 Weltcuprennen.
Das war nie das Ziel. Aber es ging immer um wichtige Punkte, die WM-Qualifikation oder darum, das Material im Rennen zu testen. Aufgrund schwieriger Trainingsverhältnisse war es manchmal die einzig sinnvolle Option. Es ist schwierig zu sagen, wie lange ich gebraucht hätte, um im Training alles wieder aufzubauen. Dafür habe ich jetzt die Sommervorbereitung genutzt.

Ihre Teamkollegin Camille Rast, die auch neu bei Salomon war, kehrte zu ihrem alten Ausrüster zurück. War das für Sie kein Thema?
Nie. Es war mir bewusst, dass es Zeit brauchen könnte, um etwas Neues aufzubauen. Ich vertraue der Firma und bekomme jede Unterstützung, die ich brauche. Ich stehe voll hinter dem Team von Salomon und das Team hinter mir. Wir arbeiten hart für die nächste Saison.

Zurück zur Aktualität. Sie sind erstmals seit vielen Jahren nicht mehr bei den Technikerinnen, sondern in der Speed-Gruppe. Lassen Sie den Slalom künftig links liegen?
Ich bleibe eine Allrounderin. Aber meine Prioritäten verschieben sich und die Veränderung des Umfelds tut mir gut. Ich investiere derzeit mehr in den Riesenslalom, weil ich dort besser fahren möchte – aber auch, weil er die Basis für Abfahrt und Super-G ist.

Haben Sie keine Angst, im Slalom den Anschluss zu verlieren?
Aktuell steht der Riesenslalom im Vordergrund. Wir sind meist alle miteinander unterwegs, weshalb ich neu nur bei Bedarf von Speed zu Slalom wechsle, anstatt wie früher von Slalom zu Speed.

Im kommenden Winter gibt es keinen Grossanlass. Was ändert dies?
Für mich nicht allzu viel. Die Aufregung über einen Grossanlass hat bei mir in den letzten Jahren stark abgenommen. Mein Ziel ist es, im Januar in Topform zu sein.

2026 stehen die Olympischen Spiele in Mailand/Cortina an. Werden Sie dabei sein?
Ich hoffe es sehr! Ich freue mich sehr darauf, nach Pyeongchang 2018 und Peking 2022 Olympia in Europa zu erleben.

Ihr Freund Luca de Aliprandini ist Italiener, Sie sprechen Italienisch und leben im Sommer am Gardasee.
Zudem waren meine Eltern noch nie bei Olympischen Spielen dabei. Sie bekommen hoffentlich eine letzte Chance, mich bei diesem Grossanlass fahren zu sehen, der mir so viel bedeutet.

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