Vor einem Jahr lag Michelle Gisin im Bett. Kraftlos, mutlos, fast regungslos. Das Pfeiffersche Drüsenfieber traf sie so hart, dass sie um ihre Karriere fürchten musste.
Was folgte, war ein Winter, wie sie ihn nie erwartet hätte. Gisin fuhr in drei Disziplinen (Super-G, Riesenslalom und Slalom) aufs Weltcup-Podest, im Gesamtweltcup wurde sie Fünfte. Vor allem aber holte sie bei Olympia Super-G-Bronze und nach 2018 zum zweiten Mal Kombi-Gold. «Das letzte Jahr war schwer zu fassen, sehr extrem. Ich steckte die ganze Energie, die ich hatte, ins Skifahren rein. Es war ein Leben am Limit.» Die Folge? Gisin war im Frühling zwar glücklich, benötigte aber viel Zeit, um alles zu verarbeiten.
Um sowohl körperlich als auch geistig wieder Kraft zu tanken, machte die Gisin intensiv Yoga. Das tut sie zwar schon seit Jahren, zuletzt aber wohl noch etwas bewusster. Sie genoss auch die Zeit mit ihrem Freund Luca zu Hause am Gardasee, nahm erstmals Tennis-Lektionen («Meine Angriffsbälle sind schon ziemlich gut») und besuchte ihre Familie in Engelberg OW. Ganz in der Nähe, auf dem Trübsee, treffen wir Gisin. Sie sagt: «Seit einigen Wochen fühle ich mich wieder wie ich selbst.»
Dazu beigetragen hat auch ein ganz spezieller Segelboot-Trip. Zusammen mit vier Freundinnen und einem Skipper erkundete Gisin eine Woche lang die traumhaften Buchten Sardiniens und Korsikas. «Das Boot ist 30 Jahre alt, ein Katamaran mit ganz wenig Platz. Ich habe mir oft den Kopf angeschlagen», so die 1,74 Meter grosse Ski-Allrounderin. «Wir hatten weder Kühlschrank noch Dusche», erzählt sie.
Den Anker einholen? Gisin ist da!
Gisin, seit Jahren eine leidenschaftliche Windsurferin, ist froh um die neue Erfahrung auf dem Wasser. «Wir hatten bewusst keinen Luxus und lebten sehr simpel, nahe an der Natur. Das war richtig cool», erzählt sie.
Gleichzeitig kam die körperliche Aktivität nicht zu kurz. Gisin musste wie ihre Kolleginnen die Segel hochziehen, halsen und steuern. «Es gab fast immer etwas zu tun. Und irgendwann wurde ich als Anker-Aufzieherin auserkoren. Das war richtig streng, einmal hatten wir 30 Meter Kette im Wasser – ich musste wie verrückt kurbeln.»
Es gab aber auch Momente der Entspannung. «Ich habe gelesen, bin viel geschwommen und konnte meine Batterien aufladen. Und nun weiss ich fast alles über Segelboote», resümiert sie schmunzelnd.
Heute fühlt sich Gisin bestens erholt – auch vom Pfeifferschen Drüsenfieber. «Ich brauche am Morgen nicht mehr eine oder zwei Stunden Aufwachzeit», sagt sie erleichtert. Auch die Gliederschmerzen und Stimmungsschwankungen seien weg. Dennoch: Die Blutwerte behalten Gisin und ihr Arzt ganz genau im Auge. Ihr ist bewusst, dass ein Rückschlag zwar unwahrscheinlich, aber möglich ist.
«Spannend, ins Ungewisse zu springen»
Gisin fühlt sich also wieder wohl in ihrer Haut. Da bleibt die Frage: Warum entschied sie sich, nach 14 Jahren bei Rossignol nun einen Vertrag bei Salomon zu unterschreiben? «Ich finde es extrem spannend, auch mal ins Ungewisse zu springen. Die neuen Ski geben mir einen Motivationsschub», sagt sie. Dem Risiko des Unterfangens ist sich Gisin bewusst. «Es könnte in die Hosen gehen, klar. Aber es könnte auch mega gut kommen. Und jetzt, mit 28 Jahren, ist der richtige Zeitpunkt für einen Wechsel gekommen!»