Blick: Macht es für Sie einen grossen Unterschied, dass der Chuenisbärgli-Riesen nicht wie üblich am Samstag, sondern erst am Sonntag gestartet wird?
Marco Odermatt: Aufgrund der Programmänderung hatte ich zwischen dem letzten Training und dem Wettkampf zwei skifreie Tage. Am liebsten habe ich es, wenn nur ein skifreier Tag dazwischenliegt. Und ich wäre vor der Anreise zu den Lauberhornrennen nach Wengen gerne einen Tag länger zu Hause geblieben, was nun nicht möglich sein wird. Aber ein grosses Problem ist das nicht. Ich bin dankbar, dass alles dafür getan wird, dass dieser einzigartige Riesenslalom trotz der schwierigen Wetterbedingungen gestartet werden kann.
In Adelboden erhält der Sieger genau wie in Wengen 45'000 Franken Preisgeld. Es gibt einige Athleten, die diese Summe als unverhältnismässig taxieren. Wie sehen Sie das?
Wenn wir uns mit Tennis-Spielern vergleichen, kommst du dir als Skirennfahrer wie der grösste Joggel vor. Wenn ich aber an das Einkommen eines Weltklasse-Kunstturners oder eines Freestylers denke, muss ich sagen, dass es uns nicht so schlecht geht. Ich bin trotzdem der Meinung, dass die Weltcup-Klassiker spezieller honoriert werden müssten. Dass die Organisatoren der Speed-Rennen in Kvitfjell, wo selten mehr als 1000 Zuschauer dabei sind, nicht mehr Preisgeld bezahlen können, leuchtet mir total ein. Aber zu den Rennen in Adelboden und Wengen pilgern zwischen 35'000 und 60'000 Fans. Zudem kassieren diese Veranstalter auch noch Geld von Sponsoren und den TV-Stationen. Ich erwarte nicht, dass der Sieger bei jedem Klassiker wie in Kitzbühel 100'000 Euro erhält. Aber ein bisschen mehr als in Kvitfjell sollte man bei den Weltcup-Klassikern im Berner Oberland schon verdienen können.
Die Rennen in Adelboden könnten wahrscheinlich noch besser vermarktet werden, wenn sie wie in Schladming am Abend zur besten TV-Sendezeit gestartet würden. Was halten Sie davon?
Ich habe nichts dagegen. Es ist unbestritten, dass ein Nacht-Riesen- oder -Slalom am Chuenisbärgli eine noch höhere TV-Einschaltquote generieren würde. Ich glaube aber nicht, dass wir bei einem Flutlichtrennen im Berner Oberland noch mehr Zuschauer vor Ort hätten. Diesbezüglich ist man in Adelboden und Wengen schon jetzt am Limit. Wir müssen auch in Betracht ziehen, dass hier nicht dieselben Voraussetzungen gegeben sind wie in Kitzbühel, wo die Fans mit dem Zug anreisen können und vom Bahnhof bis ins Ziel lediglich 200 Meter laufen müssen.
Sie haben sich in den letzten Tagen auf der österreichischen Reiteralm auf die grossen Heimrennen vorbereitet, weil es in der Schweiz um diese Jahreszeit keine permanente Trainingsstrecke auf diesem Niveau gibt. Ist das für Sie ein Ärgernis?
Ja, ich finde es schon bedenklich, dass wir als aktuelle Ski-Nation Nummer 1 nichts Vergleichbares hinbekommen. Ich weiss aber auch, dass unsere Ansprüche enorm hoch sind. Ich trainiere seit acht Jahren auf der Reiteralm, wo uns Schweizern wirklich jeder Wunsch erfüllt wird. Da funktioniert alles perfekt. Und ich bin mir auch bewusst, dass es aufgrund der geografischen Lage nicht ganz einfach ist, in der Schweiz etwas Vergleichbares zu finden. Auf der Reiteralm liegt die untere Trainingsstrecke auf 700 Metern. Bei uns liegt auf dieser Höhe selten Schnee. Und zu hoch sollte ein Trainingsgelände eben auch nicht liegen.
Lassen Sie uns über Ihr Verhältnis zu Ihrem kongenialen Werbepartner Roger Federer reden – wie oft haben Sie mit King Roger privat Kontakt?
Sehr selten. Wir haben uns kurz ausgetauscht, als unser neuer Werbespot erstmals im TV zu sehen war. Und vor dem Weltcup-Auftakt hat er mir viel Glück für die Saison gewünscht. Es gab allerdings eine Situation, in der ich gegenüber Roger ein ziemlich schlechtes Gewissen hatte.
Warum?
Ich habe mir zu später Stunde im Bett liegend Rogers Film «Zwölf letzte Tage» angeschaut. Weil mich diese Dokumentation total gefesselt hat, habe ich tief in der Nacht zu meinem Handy gegriffen, weil ich Roger per Whatsapp zu dieser Produktion gratulieren wollte. Dummerweise bin ich in diesem Moment auf die Anruftaste gekommen. Das war mir extrem peinlich. Ich habe befürchtet, dass sich Roger denken wird, dass der Odermatt angetrunken an einer Bar sitzt und um zwei Uhr morgens einem Kollegen beweisen muss, dass er die Handynummer von King Roger besitzt. Zum Glück hat er auch in dieser Situation völlig leger reagiert, wie Roger in unserem gemeinsamen Werbespot so schön sagt.
Aktuell laufen drei Werbespots von Ihnen auf den Schweizer TV-Stationen. Wie gehen Sie damit um, wenn Sie an einem gemütlichen Fernsehtag ständig mit sich selber konfrontiert werden?
Ich bin froh, dass ich in drei von vier Alpin-Disziplinen am Start stehe und deshalb nur wenige Rennen im TV verfolge. Ich würde mich extrem nerven, wenn ich ständig die Werbespots mit mir anschauen müsste.
Ihre Heimatgemeinde Buochs wollte beim Dorfeingang eine grosse Tafel mit einem Porträtbild von Ihnen installieren. Stimmt es, dass Sie sich dagegen gewehrt haben?
Ja. Ich glaube, kein Bürger hat grossen Bock darauf, jeden Morgen, jeden Mittag und jeden Abend seinen eigenen Grind oder den Kopf eines anderen zu sehen. Mir geht es in jedem Fall so. Und ich glaube, dass selbst Fans von mir irgendwann den «Verleider» bekommen hätten, wenn sie bei jeder Fahrt durch Buochs mein Bild gesehen hätten. Und Leute, die nichts mit mir anfangen können, hätten sich gedacht: Nein, bitte nicht schon wieder der Odermatt! Jetzt steht bei der Einfahrt nach Buochs zwar trotzdem eine Torflagge mit einem Bild von mir. Aber immerhin handelt es sich dabei nicht um eine Porträtaufnahme, sondern um ein Aktionsfoto.
Ihre Mutter ist vor dem Saisonauftakt ins Kloster Einsiedeln im Kanton Schwyz gefahren, und hat für Sie eine Kerze angezündet. Wie wichtig ist das für Sie?
Ich bin sicher kein Musterkatholik, dennoch finde ich solche Rituale sehr schön. Es ist nicht so, dass ich ein enorm gläubiger Mensch bin. Aber bei speziellen Anlässen gehe ich in die Kirche.
Wann haben Sie zuletzt einen Gottesdienst besucht?
Das war im letzten Sommer bei der Hochzeit von Niels Hintermann in Lenzerheide. Ich schaue mir aber auch gerne eine Kirche an, wenn ich in einer Stadt unterwegs bin. Als ich im letzten Frühling in Barcelona war, bin ich zur berühmten Basilika spaziert. Und wenn ich zu Hause eine Bergtour mache, lege ich gerne einen Zwischenhalt bei einer Bergkapelle ein.
Sie haben in den letzten Jahren auch mehrere Beerdigungen von jungen Weggefährten erlebt. 2018 mussten Sie von Ihrem Rennfahrer- und RS-Kumpel Gian Luca Barandun Abschied nehmen, am Tag Ihres ersten Riesenslalom-Weltcupsiegs in Santa Catarina 2020 ist einer Ihrer Freunde beim Freeriden in der Region Engelberg tödlich verunglückt. Sind diese Ereignisse mitverantwortlich, warum Sie trotz Ihrer gigantischen Erfolge nie die Bodenhaftung verloren haben?
Das hängt auch mit meiner Erziehung zusammen. Wenn ich in Engelberg bin, besuche ich meistens das Grab meines Freundes. Ich denke auch oft an meine verstorbenen Kollegen, wenn ich auf dem Podest stehe und die Nationalhymne singe. Das liegt wahrscheinlich daran, dass unsere Hymne sehr viel tiefer geht als irgendein Après-Ski-Hit.
Sie legen pro Jahr mit dem Auto und dem Flugzeug unzählige Kilometer zurück. Welches war Ihre turbulenteste Reise?
Ziemlich heftig war eine Anreise von der Reiteralm nach Adelboden. Ich weiss nicht mehr genau, in welchem Jahr das war, aber dieser Flug von München nach Belp war wirklich nichts für schwache Nerven.
Was ist passiert?
Während unseres Flugs hat ein extrem starker Wind sein Unwesen getrieben, die Pilotin hat uns relativ früh darauf aufmerksam gemacht, dass es nicht einfach sein würde, in Bern zu landen. Und tatsächlich, die ersten beiden Landeversuche mussten abgebrochen werden. Meine Teamkollegen und ich konnten an den Gesichtern der Flugbegleiter erkennen, dass auch sie nervös waren. Zum Glück war der dritte Landeversuch erfolgreich. In diesem Moment war ich sehr dankbar, als ich wieder festen Boden unter den Füssen hatte.
Viele Gefahren warten auf der Kitzbüheler Streif, die unmittelbar nach den Klassikern im Berner Oberland auf dem Programm steht. Ihr Zimmerkollege Justin Murisier hat gesagt, dass er Sie noch nie so enttäuscht erlebt hat, wie nach dem zweiten Rang bei der letzten Abfahrt in Kitzbühel.
Jein. Wenn du auf der berüchtigtsten Abfahrt der Welt Zweiter wirst und in der Woche zuvor zweimal in Wengen triumphieren konntest, bist du sicher nicht am Boden zerstört. Aber klar, ich war damals top in Form, es war alles angerichtet für den Sieg. Als ich mit der Startnummer 7 ins Ziel gekommen bin, lag ich eineinhalb Sekunden vor Topmann Ryan Cochran-Siegle, obwohl ich während der Fahrt im oberen Abschnitt nicht das beste Gefühl hatte. Entsprechend gross war mein Jubel. Ich bin mir dann für ein paar Minuten ziemlich dumm vorgekommen, als unmittelbar nach mir Cyprien Sarrazin um eine Sekunde schneller war als ich. Aber diese Enttäuschung ist schnell der Freude gewichen.
Apropos Sarrazin: Hatten Sie seit seinem fürchterlichen Crash in Bormio Kontakt mit ihm?
Wir haben uns kurz per Whatsapp ausgetauscht. Ich habe ihn auch einmal versucht anzurufen, Cyprien ging allerdings nicht ran. Aber nach unserem schriftlichen Dialog hatte ich das Gefühl, dass es ihm den Umständen entsprechend gut geht.