Wir schreiben den 21. Juni 2022, als sich Österreichs Superstar Hermann Maier (50) und der Nidwaldner Überflieger Marco Odermatt (25) erstmals begegnen. Die beiden haben sich für ein Doppel-Interview mit SonntagsBlick in einem Gasthof in der Region Salzburg verabredet.
Gegen Ende eines sehr launigen Gesprächs wird der «Herminator» vom Reporter gefragt, ob er Bammel davor habe, dass ihm Odermatt den Weltcup-Rekord von 2000 Punkten in einer Saison entreissen könnte. «Ich traue dem Marco sehr viel zu, aber diese 2000er-Marke ist in Wahrheit nicht wirklich relevant. Für einen Skifrennfahrer ist es viel wichtiger, dass er am Ende von einem Weltcup-Winter derart viele Kristallkugeln gewonnen hat, dass er sie nicht mehr selber tragen kann.»
Odermatt pflichtet dem Altmeister an diesem Abend bei. «Als Rennfahrer ist es dir egal, wie hoch der Vorsprung bei einem Renn-Triumph oder die Punktezahl bei einem Gesamtsieg ist. Egal ob deutlich oder knapp – Sieg ist Sieg.»
Knapp acht Monate später wird dem 25-jährigen Ausnahme-Athleten vom Vierwaldstättersee dann aber bewusst, dass die Punktzahl eben doch von hoher Bedeutung sein kann. Obwohl er schon länger als Gewinner der grossen Kugel für den Gesamtweltcup und der kleinen Super-G und Riesenslalom-Kugeln feststeht, wirkt Odermatt vor dem letzten Riesenslalom dieses Winters in Soldeu extrem angespannt.
«Diese Marke hat nun schon eine grosse Bedeutung für mich»
«Vor der Anreise nach Andorra habe ich geglaubt, dass ich dieses Finale ohne jeglichen Druck bestreiten kann. Aber dann habe ich am Start doch plötzlich Druck gespürt. Da wurde mir klar, dass das Erreichen dieser 2000er-Marke doch etwas ganz Wichtiges ist.»
Aber mit Druck kann der Weltmeister und Olympiasieger bekanntlich so gut umgehen wie kein anderer Alpin-Rennfahrer dieser Zeit. Deshalb liegt er nach dem ersten Lauf bereits mit über einer Sekunde Vorsprung auf Frankreichs Kombi-Weltmeister Alexis Pinturault (30) in Führung.
Weil ein dritter Rang zur Verbesserung des 23 Jahre alten Maier-Rekords bereits genügt, könnte er im entscheidenden Durchgang ein wenig taktieren. Zumal die Sicht in den Pyrenäen immer schlechter wird. Der 1,83-Meter-Mann geht aber noch einmal voll ans Limit. Und wird belohnt.
Er gewinnt mit sage und schreibe 2,11 Sekunden Vorsprung auf Slalom-Weltmeister Henrik Kristoffersen (28), der sich im Finale vom achten auf den zweiten Platz verbessert. Damit steht der Weltcup-Punkterekord jetzt bei 2042! «Diese Marke hat nun schon eine sehr grosse Bedeutung für mich. Zumal ich davon ausgehe, dass sie für längere Zeit halten wird», meint der strahlende Odermatt.
Mit seinem 13. Weltcup-Triumph in diesem Winter hält er jetzt auch gemeinsam mit Maier, Marcel Hirscher (34, Ö) und Ingemar Stenmark (67, Sd) den Saisonsieg-Rekord. Und mit seinem total 24. Weltcupsieg zieht Odermatt im ewigen Ranking mit dem Zürcher Peter Müller gleich. Somit ist Pirmin Zurbriggen (60, 40 Weltcupsiege) der einzige Schweizer, der noch mehr Erfolge vorweisen kann.
Kristoffersen attackiert Schweizer Trainer!
Weil gestern auch Odermatts Kumpel Thomas Tumler (34) mit der Bestzeit im zweiten Lauf glänzte und sich damit vom 16. auf den 5. Schlussrang verbessert, darf man von einem der schönsten Tage in der Schweizer Ski-Geschichte reden.
Einzig Henrik Kristoffersen sieht das anders. Der Wikinger tobte bei Rennhalbzeit wegen der Kurssetzung von Odermatts Co-Trainer Johannes Hassler im Interview mit dem norwegischen Fernsehen: «Die Schweizer ruinieren mit derart schnell gesetzten Riesen-Läufen den Ski-Sport!»
Kristoffersen wird danach im ORF von Riesenslalom-Altmeister Hans Knauss (Adelboden-Sieger und Vize-Weltmeister 2003) in den Senkel gestellt. «Henriks Wortwahl ist wirklich komplett überzogen», kritisiert der 53-Jährige. «In meinen Augen war das ein wunderbarer Riesenslalom-Lauf. Der Schweizer Trainer hat Torabstände von 27 Metern gesetzt. Zu meiner Aktivzeit um die Jahrtausendwende hat unser Trainer Toni Giger, der jetzt übrigens für Kristoffersens Ausrüster Van Deer arbeitet, Torabstände von 30 Metern gesetzt. Da ist es dahin gegangen, dass es nur so gepfiffen hat um den Helm!»
Am Ende dieses geschichtsträchtigen Tages zeigt sich dann auch der «Giftzahn» aus Norwegen versöhnt – Kristoffersen verneigt sich bei der Siegerehrung demonstrativ vor Odermatt. Und Hermann Maier betrachtet den Weltcup-Punkterekord nun aus einem anderen Blickwinkel. «Es hat 23 Jahre gedauert, bis ich dank Odermatt bemerkt habe, was 2000 Punkte in einer Saison bedeuten – man muss dafür so ziemlich alles gewinnen ...»