Auf einen Blick
- Lindsey Vonn gibt Comeback in St. Moritz nach 2141 Tagen Pause
- Vonn erreicht Platz 14 mit Teilprothese im rechten Knie
- Für St. Moritz ist ihre Rückkehr wie ein Weihnachtsgeschenk
Unter den 5000 Skifans, die an diesem Samstagmorgen den Weg in den Zielraum Salastrains unter die Füsse nehmen, ist Vonns Comeback das Gesprächsthema Nummer 1. Kann sie mit den Besten mithalten? Schafft sie es gar aufs Podest? Oder landet sie im Fangnetz? Es sind Fragen, die sich alle stellen.
Um 11.47 Uhr steht Vonn mit der Startnummer 31 im Starthaus der Piste Engiadina. Nach knapp sechs Jahren oder 2141 Tagen Rennpause, mit 40 Jahren und einer Teilprothese im rechten Knie macht sie sich zum Comeback bereit. In diesem Moment, da ihr die Sonne auf die Skibrille scheint, wirkt es, als wäre sie nie weg gewesen. «Ich habe mir gedacht: Hab Vertrauen! Gib Vollgas! Geniesse es!», wird sie später sagen.
Vonn ist konzentriert, ihr Blick ist nach vorne gerichtet, der Körper angespannt. Wie immer öffnet und schliesst sie beide Hände um den Skistock-Griff mehrmals. Wie ein Tier, das bald aus dem Käfig gelassen wird. Noch 10 Sekunden. Die Uhr piept runter. Sechs, fünf, vier, drei … Los gehts! Und tatsächlich: Was Vonn zeigt, hat Hand und Fuss. Von Harakiri, wie in den letzten Jahren ihrer ersten Skikarriere, ist nichts zu spüren. Im Gegenteil: «Ich bin überhaupt kein Risiko eingegangen, das war ganz gemütlich. Aber genau das habe ich gebraucht.» Im Ziel leuchtet Platz 14 auf – dabei bleibt es bis zum Schluss. Sie verliert nur 1,18 Sekunden auf Siegerin Cornelia Hütter. «Dieses Adrenalin im Bauch zu haben, fühlt sich super an. So was spürst du sonst nirgends im Leben. Es war ein perfekter Tag.»
Vonn-Comeback als Weihnachtsgeschenk
Vonn ist die grosse Figur in Salastrains. 300 Höhenmeter weiter unten, in St. Moritz selbst, wirkt dagegen alles wie immer. Reiche Touristen schauen sich im Gucci-Shop nach einem Weihnachtsgeschenk um, italienische Arbeiter räumen den frisch gefallenen Schnee vom Trottoir, und in der über 100 Jahre alten Confiserie Hauser gehen die Engadiner Nusstorten wie gewohnt über den Tresen.
Sicher ist: Nicht nur für die Veranstalter, sondern für die ganze Tourismusregion ist Vonns Comeback wie ein Sechser im Lotto. Kurz nach ihrer Ankündigung, im Engadin zu starten, explodierte der Ticketverkauf – innert Kürze flatterten 600 Bestellungen ein. Das ist im Vergleich mit Sölden (Ö), wo Marcel Hirscher (35) zu Saisonbeginn ebenfalls auf die Pisten zurückkehrte, ein Klacks. «Aber so etwas haben wir noch nie erlebt», sagt OK-Präsident Robin Miozzari. Es hagelte Akkreditierungen und Interview-Anfragen. «Für uns ist es ein Weihnachtsgeschenk, dass Vonn ausgerechnet in St. Moritz zurückgekehrt ist», so sein Fazit.
Titan, Zement, Plastik und ein Fünfsternehotel
Vonn liefert eines der aufregendsten Comebacks der Sportgeschichte. Wir erinnern uns: 2019 hatte sie ihre erste Karriere beendet. Nach 434 Rennen, 82 Weltcupsiegen, Olympia- und WM-Gold und vier Gesamtweltcupsiegen. Von Knieschmerzen geplagt und mit Tränen in den Augen meinte sie: «Mein Körper ist gebrochen und nicht mehr zu reparieren. Er schreit mir zu, ich solle stoppen. Es ist an der Zeit für mich, zuzuhören.»
Ruhig wurde es danach nicht um sie. Vonn kümmerte sich um ihre Stiftung für benachteiligte Kinder, entwickelte ihre Kleiderlinie weiter, raste für Red Bull unter Flutlicht die Kitzbüheler Streif herunter, produzierte und moderierte eine Hunde-Show im TV. Gleichzeitig unterzog sie sich mehreren Operationen – die letzte, im April 2024, war entscheidend. Ein Roboter schliff drei Millimeter des Oberschenkelknochens ab. Es folgten die Implantate, auch auf dem Schienbeinplateau – Titan, Zement, Plastik. Vonn fühlte sich wie neugeboren. Und begann, mit dem Gedanken an ein Comeback zu spielen.
Im Oktober folgte der erste Ski-Test in Neuseeland. Kurz darauf schloss sie sich dem US-Team an. Das Knie hielt. Als Vorfahrerin in Beaver Creek (USA) war Vonn so schnell, dass sie in der Abfahrt Siebte geworden wäre. «Es ist an der Zeit, dieses Titan-Knie auf ein nächstes Level zu bringen. Wir sehen uns in St. Moritz», kündigte sie an.
Vonn kündigt an: «Das war nur der Anfang»
Am Samstag, es ist der kürzeste Tag des Jahres, betritt Vonn frühmorgens die Signalbahn in Richtung Corviglia. Es ist noch dunkel, aber das Leben als Rennfahrerin hat sie definitiv wieder gepackt. «Bereits auf dem Lift haben mir so viele Leute gratuliert und mir Glück gewünscht. Diese Energie habe ich aufgesaugt», erzählt sie Stunden später und posiert geduldig und gut gelaunt für unzählige Selfies.
Bereits am Sonntag will Vonn an gleicher Stätte etwas mehr riskieren. «Das war nur der Anfang», kündigt sie an. Bleibt sie gesund, will sie mindestens bis Olympia 2026 in Cortina (It) weitermachen. Hat sie das Gefühl, die Konkurrentinnen nervös zu machen? «Noch nicht. Aber in ein paar Rennen schon», meint sie schmunzelnd.