Jubel, Trubel, Heiterkeit – das Doppel-Gold durch Jasmine Flury (29) und Marco Odermatt (25) macht die Ski-Schweiz froh. Da geht schon fast vergessen, dass es auch ganz andere Zeiten gab. Lilo Michel ist 83 Jahre alt und kennt sie. Als die Bernerin aus Mürren 1962 die Schweiz bei der WM in Chamonix (Fr) vertrat, ging die Schweiz komplett leer aus. Kein Gold, kein Silber, kein Bronze – nichts. «Ich hatte das Rüstzeug fürs Podest, aber nicht den Kopf. Leider bremste mich oft mein wahnsinnig grosses Lampenfieber aus», so Michel. Mit Platz 7 im Riesenslalom war sie noch eine der Besten des Teams.
Michel zählt nicht zu den Schweizer Ski-Legenden. Wie auch? Sie fuhr zu einer Zeit, als es den Weltcup (ab 1967) noch nicht gab. Ebenso wenig wie globale Superstars. Ihre Geschichte ist aber auch so spannend genug, um sie zu erzählen. Wir treffen Liselotte («Viele wissen gar nicht, dass dies mein richtiger Vorname ist») Michel noch vor der WM in einem grossen Holzhaus in Mürren im Berner Oberland. Hier, in der Wiege des alpinen Skisports, wuchs sie auf, hier lernte sie das Skifahren. Schon ihr Vater fuhr Rennen, er wurde am Lauberhorn Dritter. Michel war dagegen, das zeigte sich rasch, eine Technikerin. «Wir fuhren um die Tore herum, nicht wie heute in sie hinein», sagt sie.
Der Vater meinte: «Dummes Zeug!»
An eine mögliche Ski-Karriere dachte Michel nicht. Als sie 10 Jahre alt war, sah sie jedoch einen Film über die Olympischen Winterspiele in St. Moritz 1948. «Das hat mir einen wahnsinnigen Eindruck gemacht. Die vielen Sportler, der Schnee, das Olympische Feuer. Ich habe gedacht, dass es unglaublich schön sein muss, so etwas zu erleben.» Das eine folgte aufs andere: Schülerrennen, lokale Rennen, Nachwuchsfahrerkurs. «Mit 21 fuhr ich zur WM nach Bad Gastein in Österreich. Man dachte offenbar, dass ich Talent hätte. Dieser Grossanlass war aber von der Atmosphäre so enttäuschend, dass ich danach die Ski in die Ecke stellte.» Michel machte die Matura und schrieb sich in einer Laborantinnen-Schule ein.»
Das Feuer für den Sport entflammte wieder, als Michel ein Aufgebot erhielt: Man wollte prüfen, ob sie für Olympia 1960 in Squaw Valley (USA) infrage käme. Sie bestand mit Bravour. Als Michel ihren Eltern davon erzählt, meint ihr Vater: «Dummes Zeug!» Erst als sie ihm das Aufgebot schwarz auf weiss gezeigt hätte, habe er eingelenkt. «Mein Vater und meine Mutter haben mich unterstützt, aber nicht gefördert.»
Was Michel zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiss, ist, dass Olympia ihr Leben verändern würde. «Ich fuhr für mein Leben gern Ski. Und ich wollte die Welt sehen, andere Kulturen und Menschen kennenlernen.» Beides macht Michel in Squaw Valley. «Es gab einen riesigen Raum, wo alle Teams abends gemeinsam assen. Jede Nation hatte einen Tisch, doch irgendwann vermischte sich alles. Genau das hatte ich gesucht.» Sportlich läuft es ihr ordentlich, sie wird Fünfte im Slalom. Entscheidender für ihr Leben sind die Tage nach den Spielen. «Wir durften noch drei Tage in San Francisco bleiben und ich verliebte mich in die Stadt. Ich wollte gar nicht mehr nach Hause. Doch mein Vater bestand darauf, dass ich meine Ausbildung beende. Also flog ich zurück.»
Laborantin in San Francisco
Ihr Auswanderungstraum gibt Michel deswegen nicht auf, sie beantragt bei der Rückkehr sofort ein Visum und wandert zwei Jahre später, nach der WM in Chamonix, aus. «Fünf Tage Schifffahrt nach New York, dann 14 Tage im Greyhound nach San Francisco. Dort habe ich als Laborantin gearbeitet. Und an den Wochenenden gab ich manchmal in Squaw Valley Ski-Unterricht.» Und die sportliche Karriere? Michel beendet sie ohne Reue nach nicht einmal vier Ski-Wintern. Verdient hat sie nichts. «Das war erstens nicht erlaubt und zweitens wollte ich es nicht. Hätte mir jemand Geld gegeben, hätte ich sofort aufgehört. Das bekam ich von meinem Vater, der ein Verfechter des Amateurismus war, mit in die Wiege gelegt.» Sie erklärt weiter: «Ich gewann Medaillen und Pokale, einmal einen Silberlöffel, in Schweden eine Lederjacke und in Arosa eine Armbanduhr.» Letztere trägt sie auch jetzt noch, als sie dies erzählt.
Sechs Jahre nach ihrer Auswanderung kehrt Michel in die Schweiz zurück. «Ich lernte in San Francisco ausgerechnet einen Berner kennen. Wir hatten schon geheiratet, als er das elterliche Geschäft in Bern übernehmen musste. Wir haben zwei Töchter. Hätte ich ihn damals nicht kennengelernt, würde ich vielleicht noch heute in den USA leben.»
Michel zeigt uns vor dem Abschied noch ihr Haus – ihr Trüffelhund Balu kommt schwänzelnd mit. Sie offeriert noch einen Kaffee und meint abschliessend: «Ich drücke der Schweiz bei der WM die Daumen. Aber die anderen sollen auch einige Medaillen gewinnen.»