Bernhard Russi wird vor dem Start zur WM-Abfahrt von einem unguten Gefühl befallen. «Ich glaube nicht, dass Marco Odermatt auf dieser Abfahrt eine Medaille gewinnen kann», meint der Weltmeister von 1970 und Olympiasieger von 1972 kopfschüttelnd.
Russis Begründung: «Es fehlt eine Passage wie die Kitzbüheler Mausefalle oder das Kernen-S in Wengen, wo Marco mit seiner Technik und seinem Mut den Unterschied machen kann.»
Sehr gemischt ist die Stimmung bei Odermatts Eltern. Papa Walti ist ähnlich skeptisch wie Russi, Mama Priska versprüht dagegen viel Optimismus: «Ich hatte am Donnerstag kein gutes Gefühl vor dem Super-G. Aber nach der Besichtigung der Abfahrt bin ich Marco rein zufällig begegnet. Er hat mir gesagt: ‹Es ist richtig schön eisig, Mama.› Da habe ich gewusst, dass alles gut wird!»
Und tatsächlich: Nach der Super-G-Enttäuschung, wo er als Vierter Bronze um elf Hundertstel verpasst, demonstriert der Riesenslalom-Olympiasieger seine Extraklasse. Der Nidwaldner fährt knapp fünf Zehntel Vorsprung auf Aleksander Aamodt Kilde heraus, welcher in der laufenden Saison fünf von acht Abfahrten gewinnen konnte!
Superlative nach der Galavorstellung
Im Weltcup hat Odermatt in der Königsdisziplin zwar achtmal den Sprung aufs Podest geschafft (siebenmal Zweiter, einmal Dritter), gewonnen hat er auf höchster Stufe aber noch nie. «Es ist sicher die beste Leistung, die ich bis jetzt in der Abfahrt gezeigt habe. Vielleicht ist es sogar meine stärkste Leistung überhaupt», mutmasst der 25-Jährige.
Odermatt wird nach der Galavorstellung mit Superlativen überhäuft. «Das war die beste Fahrt, die ich in der Abfahrt seit dem Kitzbühel-Sieg von Didier Cuche 2011 gesehen habe», schwärmt Swiss-Ski-Präsident Urs Lehmann. «Ich hatte den Eindruck, dass Marco auf der ganzen Piste Schienen verlegt hatte, derart makellos war sein Lauf», sagt Deutschlands Romed Baumann.
Auch die Ösis verneigen sich vor dem Nidwaldner. «Bis jetzt haben wir in Österreich immer gesagt, dass Stefan Eberharter 2004 in Kitzbühel die einzige perfekte Abfahrt gezeigt hat. Aber diese Leistung von Odermatt war genauso perfekt», lobt Georg Fraisl, Reporter von der «Kronen Zeitung». Frankreichs Abfahrts-Oldimer Johan Clarey (42, Olympia-Silbermedaillengewinner) bezeichnet Odermatt als «Roger Federer des Skisports!»
Der Gesamtweltcupsieger hat aber nicht nur skitechnisch, sondern auch in mentaler Hinsicht eine fast übermenschliche Leistung gezeigt. Nach der verpassten Super-G-Medaille ist der Druck, endlich die erste WM-Medaille zu gewinnen, noch grösser geworden. «Mir war klar, dass ich wirklich alles riskieren muss, um das angestrebte Edelmetall gewinnen zu können.»
Bilder vom Olympiasieg in Peking
Um sich auf diese Extremsituation einzustimmen, hatte der Sieger von 19 Weltcuprennen am Sonntagmorgen etwas Besonderes hervorgekramt: «Ich habe mir die Bilder vom Olympiasieg in Peking angeschaut. Ich konnte die Emotionen nochmals aufsaugen. Das hat mir richtig gutgetan.»
Woher hat der Buochser die Gabe, in besonders heissen Momenten am coolsten zu sein? Klar ist: Marco hat die geniale Technik und das Draufgängerische von seinem «Dädi» geerbt. Ganz so starke Nerven wie der Junior hat der Bauingenieur in seiner sportlichen Blütezeit aber nicht gezeigt. Die Mama hat dem zweifachen Schweizer Sportler des Jahres Anstand im Umgang mit den Mitmenschen beigebracht. Priska Odermatt ist in den letzten 25 Jahren aber nicht mehr Ski gefahren, weil sie unter Höhenangst leidet und deshalb höchst ungern in eine Gondel oder auf einen Sessel steigt.
In Courchevel gab sie nun ihr Ski-Comeback, weil sie einen idealen Schlepplift entdeckte. «Die Coolness hat Marco von der Familie der Grossmutter geerbt», ist Walti Odermatt überzeugt. «Meine Mutter hiess ledig Frank und ist mit elf Geschwistern aufgewachsen. Einige der Frank-Kinder waren als mutige und nervenstarke Bergsteiger bekannt und haben sich auch als Unternehmer einen Namen gemacht.»
Abgebrüht sind auch die Marketingleute von Odermatts Skiausrüster Stöckli: Sie liessen schon vor der WM goldene Odermatt-Autogrammkarten mit der Aufschrift «World Champion» drucken.
In Courchevel und Méribel findet das Ski-Highlight des Winters statt. Hier findest du alles, was du über die Ski-WM 2023 wissen musst.
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