Was Leonardo David (1960–1985) Ende der 1970er-Jahre vollbrachte, ist nicht einmal den grossen Ski-Legenden wie Pirmin Zurbriggen, Ingemar Stenmark, Marcel Hirscher oder der werdenden Ikone Marco Odermatt gelungen. Der Italiener stand bei seinen ersten zehn Weltcup-Einsätzen immer in den Top 10. Was bei seinem zehnten Streich noch niemand wusste: Es sollte kein weiteres Resultat dazu kommen.
David eroberte die Skiwelt im Sturm. Mit 16 Jahren debütiert der Teenager aus Gressoney-Saint-Jean im Aostatal (It) im Europacup, in seiner zweiten Saison gewinnt er bereits die Gesamtwertung. Der Lohn: der Aufstieg in den Weltcup. Und auch dort ist er nicht zu halten, fährt bei seinem Debüt im Riesenslalom von Schladming direkt auf Rang 3 – hinter Stenmark und dem Schweizer Peter Lüscher.
Drei Monate später, am 7. Februar 1979, hat Stenmark dann bereits das Nachsehen. Der damals 18-jährige David nimmt dem schwedischen Superstar sieben Hundertstel ab und gewinnt sensationell den Slalom von Oslo. «Ich war schon so oft so nah dran am Sieg, ich wusste, dass er früher oder später kommen wird», sagt David nach seinem erst neunten Weltcup-Rennen.
Der junge Mann wird gefeiert, in seiner Heimat und der restlichen Ski-Welt. Schon nach seinem Gesamtsieg im Europacup wurde David als Nachfolger des Riesenslalom-Olympiasiegers (1972) und fünffachen Weltmeisters Gustav (72) betitelt – nach seinem Mega-Start im Weltcup sowieso. Doch dann kommt der verhängnisvolle 16. Februar 1979.
Heftiger Sturz an Landesmeisterschaft
David startet an den nationalen Meisterschaften in Cortina zur Abfahrt und stürzt nach rund 30 Sekunden, schlägt dabei hart mit dem Kopf auf. Er wird ins rund fünf Fahrstunden entfernte Lecco gebracht und untersucht. Damals gibt es nur in wenigen Spitälern Computertomografen, die eine genauere Untersuchung des Kopfes und Gehirns ermöglichen. In Lecco nicht.
Die Ärzte verordnen ihm Ruhe und Schmerzmittel, die Kopfschmerzen wollen in den Folgetagen aber nicht verschwinden. Auch nicht, als er wieder ins Training einsteigt. Paolo De Chiesa sieht in einer Einheit seinen Teamkollegen am Pistenrand stehen und fragt ihn, was los sei. Davids Antwort: «Das Geräusch von Ski auf Eis lässt meinen Kopf explodieren.» Dennoch geben die Teamärzte ihm grünes Licht für die Weltcup-Abfahrt am 3. März in Lake Placid (USA). Es ist seine Erste – und soll zugleich seine Letzte bleiben.
Kurz vor der Ziellinie stürzt er, wieder prallt er mit dem Kopf heftig auf den Boden und rutscht über die Ziellinie. Im Zielraum bricht er zusammen. Trainer und Teamkollegen, darunter Slalom-Olympiasieger Piero Gros, eilen zu ihm. Das medizinische Personal vor Ort intubiert ihn, später wird er nach Burlington (US-Bundesstaat Vermont) ins Spital geflogen.
US-Militär fliegt ihn nach Hause
Dort wird er umgehend operiert, wobei ihm ein Blutgerinnsel aus dem Gehirn entfernt wird. Schnell kommen Spekulationen auf, ob es sich dabei um eine Verletzung des Cortina-Sturzes handelt. Die Ärzte können dies nicht bestätigen – schliessen es aber auch nicht aus. Der italienische Trainer sagt: «Er hat alle Tests bestanden und es gab keine Anzeichen, dass etwas schieflaufen könnte.» David wird in ein künstliches Koma versetzt, aus welchem er nie wieder aufwachen sollte.
Sein Zustand ändert sich in den nächsten Monaten kaum. Im Mai wird David mithilfe des US-Militärs nach Novara in der Nähe von Mailand verlegt. Seine Eltern erhoffen sich dort eine genauere Behandlung durch Spezialisten. Als sie aus dem Flugzeug steigen, erblicken sie Arrigo Gattai (1928–2012), den damaligen Präsidenten des italienischen Ski-Verbandes (Fisi). Vater Davide, einst selbst Skirennfahrer, ruft ihm wütend zu: «Geh weg!»
Im Juli folgt der Transport zu Spezialisten in Innsbruck, im September gibt es erste Anzeichen auf Besserung. Er könne seine Gliedmassen leicht bewegen und würde Familie und Freunde wieder wahrnehmen, meinen die Ärzte.
Familie will Ärzte für Tod zur Rechenschaft ziehen
Drei Jahre ziehen ins Land, noch immer befindet sich das junge Skitalent in einer Art Wachkoma. Seine Familie kümmert sich Tag und Nacht um ihn im Wissen, dass es nie mehr sein wird wie zuvor. Wie der Autor von Davids Biografie später erzählt, besuchen Gros und De Chiesa ihren verunfallten Kollegen immer wieder. Beide habe der Unfall emotional sehr mitgenommen.
Am 26. Februar 1985, gut sechs Jahre nach seinem Sturz in Cortina, stirbt David im Alter von 24 Jahren an Herzversagen. Die Trauer bei Familie, Teamkollegen und ganz Italien ist immens. Seine Angehörigen lancieren einen Rechtsstreit und wollen Ärzte und den italienischen Ski-Verband zur Rechenschaft ziehen.
Im November 1985 werden Untersuchungen eingeleitet. Die Familie David wirft dem Verband vor, Leonardo zu wenig geschützt und ihn trotz körperlicher Beschwerden in Lake Placid starten lassen zu haben. Fünf Jahre später werden drei Ärzte wegen Totschlags angeklagt: Der Arzt, der David nach seinem Cortina-Sturz untersuchte, der Präsident des medizinischen Komitees der Fisi und der Teamarzt in Lake Placid. Doch die Klage bleibt ohne Erfolg, die Familie verliert und bleibt auf den Gerichtskosten sitzen.
Wer weiss, was aus Leonardo David hätte werden können. Statt Rekorde, Kristallkugeln und WM- und Olympia-Medaillen erinnert nun eine Stele auf dem Hauptplatz in Gressoney-Saint-Jean an das Skitalent, das zu früh von uns ging.