Niels Hintermann steht vor der härtesten Bewährungsprobe in seinem Leben. Nach der schockierenden Diagnose Lymphdrüsenkrebs muss der 29-Jährige eine Chemotherapie über sich ergehen lassen.
Wie heftig eine solche Therapie ist, lässt die Verbildlichung von Swiss Ski-Chefarzt Walter O. Frey erahnen: «Es ist, wie wenn man mit einer Dampfwalze über eine Mayonnaisetube fährt und danach diese Tube wieder auffüllt.» Im Vergleich mit einem durchschnittlichen Krebs-Patienten nimmt der Sieger der letzten Weltcup-Abfahrt in Kvitfjell diese Herausforderung mit einem grossen Pluspunkt in Angriff: Sein Körper ist in absoluter Top-Form. Zudem hat der Zürcher bereits als kleiner Bub gelernt, wie ein Löwe zu kämpfen.
Harte Zeiten in der Kindheit
Niels hat sein gut behütetes Elternhaus bereits kurz nach seinem zehnten Geburtstag verlassen, um in Schruns-Tschagguns die Ski-Hauptschule zu besuchen. «Das war tatsächlich eine sehr harte Zeit», erinnert sich Hintermann. «Ich war an dieser Schule der einzige Schweizer unter zahlreichen Österreichern, die mir diverse, sehr gemeine Streiche gespielt haben. Es ist oft vorgekommen, dass ich vor lauter Heimweh weinend nach Hause telefoniert habe. Letztendlich habe ich mich dort aber durchgebissen.»
Vom vorarlbergischen Schruns aus übersiedelte der gebürtige Bülacher mit 14 Jahren ins Tiroler Dorf Stams, wo er das weltberühmte Ski-Gymnasium besuchte. Hintermann bezeichnet diese Zeit als die schlimmste Phase in seiner Kindheit. «Ich habe mich dort wie in einem Gefängnis gefühlt. Essen, schlafen, trainieren, lernen – sonst nichts. Und da waren damals Leute wie der spätere Skispung-Superstar Gregor Schlierenzauer, der mich nie gegrüsst hatte. Es war alles ziemlich asozial.»
Schier zerbrochen wäre der 100 Kilo schwere Abfahrts-Koloss fast an den Folgen seines ersten Weltcupsiegs 2017 bei der Lauberhorn-Kombination in Wengen. «Ich habe dieses Rennen damals nur gewonnen, weil das Wetter völlig verrückt gespielt hat. Dennoch habe ich durch diesen Erfolg eine gewisse Bekanntheit erlangt. Und mir hat zu diesem Zeitpunkt die menschliche Reife gefehlt, um damit umgehen zu können.»
Auf den ersten Weltcup-Sieg folgten Existenzängste
Es dauerte nicht lange, bis der Mann mit slowenischen Wurzeln (Mama Sonja stammt aus der Region Kranjska Gora) von Schmerzen und Existenz-Ängsten geplagt wurde. «Nachdem ich wegen einer Schulterverletzung lange ausgefallen war, stand ich plötzlich ohne Sponsor da. Als ich im Sommer 2018 nur noch wenig Geld auf dem Konto hatte, habe ich mir ernsthaft die Frage gestellt, ob ich mich nicht besser nach einem neuen Job umschauen sollte.»
Bekanntlich hat sich Hintermann aber auch in dieser Situation entschieden, weiterzukämpfen. Weil er in der Zwischenzeit drei Weltcupsiege und vier weitere Podestplätze auf dem Konto hat, braucht er sich in finanzieller Hinsicht keine Sorgen mehr zu machen. Nach der Hochzeit am 6. Juli hat Niels mit seiner grossen Liebe Lara unweit von Dübendorf ZH ein schmuckes Eigenheim bezogen. Hier wird der grosse Kämpfer in den nächsten Wochen zwischen den Chemotherapien Kraft tanken.