Valle Nevado (Chile), in der ersten Septemberwoche: Das Stimmungsbarometer hat im Trainingscamp der Schweizer Abfahrer den Tiefpunkt erreicht! Es sind die heftigen Schneefälle, die vor allem Niels Hintermann stark beunruhigen. «Ich wurde nervös, weil ich befürchtet habe, dass ich mit viel zu wenig guten Speed-Trainings in den Beinen aus Chile abreisen würde.»
Weil es in den chilenischen Anden tatsächlich fast drei Wochen lang durchschneit, kommen Hintermann und Co. während ihres Südamerika-Aufenthalts tatsächlich nie in den Genuss einer richtig eisigen Trainingspiste. Trotzdem kann der schnellste Zürcher Abfahrer seit Peter Müller (66, Weltmeister 1987) zwei Monate später verkünden, dass er in diesem Camp einen ordentlichen Schritt nach vorne gemacht hat.
Schneller als Odermatt
Auch deshalb, weil sein Trainer Reto Nydegger in der tristesten Phase, die genau richtigen Worte gefunden hat. «Reto hat mir klargemacht, dass die Einheiten auf einer Neuschneepiste eine riesige Chance für mich darstellen. Er war sich sicher, dass ich bei diesen Bedingungen meine Technik verbessern kann. Reto sollte recht behalten», versichert der 28-Jährige und erzählt die Details: «Bis dahin bin ich auf weichen Pisten immer richtig schlecht gefahren. Meine Fahrweise war zu wenig exakt, zumal bei solchen Bedingungen der kleinste Positionsfehler brutal bestraft wird. Aber weil wir in Chile fast ausnahmslos auf weichen Pisten trainiert haben, konnte ich mich stabilisieren. Und das macht sich für mich jetzt auch auf harten Pisten bezahlt.»
Wie gut Hintermann in Form ist, hat sich bei den letzten Trainingsvergleichen in Zermatt mit Marco Odermatt gezeigt. «Odi wollte in diesen Trainings unbedingt die Bestzeiten erzielen. Damit die Zeit noch schneller gestoppt wird, hat er bei der Zieleinfahrt wie in den Rennen einen Arm ausgestreckt. Trotzdem war Niels in sämtlichen Läufen um ein paar Hundertstel schneller», verrät Speed-Co-Trainer Willi Dettling.
Im Farmteam der ZSC Lions
Einen grossen Anteil an Hintermanns starker Verfassung hat auch das Farmteam der ZSC Lions. Seit dem Rücktritt seines langjährigen Konditiontrainers Jürgen Loacker absolviert der Triumphator der Kvitfjell-Abfahrt 2022 die Kraft- und Konditionstrainings zusammen mit den GCK Lions.
«Mein zukünftiger Schwiegervater ist ein guter Bekannter von ZSC-CEO Peter Zahner», erklärt Niels. «Nachdem klar war, dass ich Loacker als Konditionscoach verliere, hat er sich bei Zahner nach Alternativen für mich erkundigt. Auf diese Weise bin ich letztendlich bei den GCK Lions gelandet.»
Die Zusammenarbeit mit den Eishockey-Profis erweist sich für die selbst ernannte Abfahrts-Wildsau als Volltreffer. «Ich profitiere enorm von den Trainings mit den Lions, auch, weil hier der Teamgedanke noch viel ausgeprägter ist als im Skisport. Bei jeder Übung steht jemand hinter mir, der mich absichert und gleichzeitig pusht, damit ich noch mehr Gewicht auf die Hanteln lade. Deshalb habe ich auch in diesem Bereich in den letzten Monat noch einmal einen Schritt nach vorne erzielt.»
Hochzeit im kommenden Juli
Entsprechend ausgeprägt ist Hintermanns Vorfreude auf die erste Weltcup-Abfahrt in Zermatt-Cervinia am kommenden Samstag. «Das Team um OK-Präsident Franz Julen hat nach der Kritik, die einige Rennfahrer vor ein paar Jahren zu diesem Projekt geäussert haben, richtig reagiert, die Streckenlänge wurde gekürzt. Ich bin mir sicher, dass wir hier tolle Rennen haben werden. Und weil es mittlerweile keine Abfahrt mehr gibt, auf der ich nicht schnell sein kann, rechne ich mir logischerweise auch auf dieser Piste einiges aus.»
Sechs Podestplätze (zwei Siege, vier dritte Plätze) hat Hintermann bis jetzt auf seinem Weltcup-Konto. Sie können darauf wetten, dass der gebürtige Bülacher diese Bilanz in den nächsten Monaten ordentlich aufpolieren wird. So oder so eine krachende Party feiern wird er am 6. Juli 2024 – an diesem Tag wird Hintermann seine Freundin Lara kirchlich heiraten.