Mit feuchten Augen erscheint Michelle Gisin zum Gespräch. Sind es Tränen des Glücks? Nein. «Der Wind und die trockene Luft machen mir hier zu schaffen», sagt sie.
Die Freude über ihren zweiten Podestplatz des Winters steht ihr trotzdem ins Gesicht geschrieben. «Ich bin extrem glücklich über diesen dritten Platz. In der letzten Saison wurde ich nach dem Materialwechsel hart kritisiert. Aber letztlich war ich meine grösste Kritikerin – irgendwann ging das Selbstvertrauen flöten und es klappte nichts mehr. Jetzt ist vieles anders, abgesehen von meinem Sturz in Cortina bin ich überglücklich mit diesem Winter.»
«Ich bin eine Allrounderin, daraus ziehe ich Energie»
Gisins Leistungen im Slalom erstaunen in der Tat. Warum? Weil sie im letzten Sommer erstmals in ihrer Karriere in die Speed-Gruppe von Swiss-Ski wechselte und so wenig Zick-Zack-Trainings absolvierte wie noch nie. «Vielleicht gab mir genau dies die nötige Lockerheit», sagt sie.
An einen Wechsel zurück in die Technik-Gruppe verschwendet sie jedoch keine Gedanken. «Ich fühle mich sehr wohl, wo ich bin. Und letztlich ziehe ich Energie daraus, dass ich Allrounderin bin – das hilft mir.»
Warum mag Gisin Are nicht?
Die Engelbergerin ist die einzige Fahrerin, die 2024 in jedem der fünf Slaloms in die Top 10 fuhr: Zehnte, Vierte, Sechste, Vierte und nun Dritte. «Das wusste ich nicht mal», sagt sie überrascht. Das Hundertstel-Glück hat sie dabei auf ihrer Seite. Ob sie Are nun doch liebt? Gisin muss ob der Frage schmunzeln. Der Hintergrund: Vor zwei Tagen hatte sie gesagt, sie möge den Ort in der Provinz Jämtland nicht besonders.
«Ich weiss auch nicht genau, warum. Irgendwie finde ich die Reise hierher einfach anstrengend, sogar anstrengender als jene nach Übersee. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass meine Energiereserven sich in Are jeweils dem Ende zuneigen.»
«Die sauren mag ich am liebsten»
Immerhin: Um ihre Speicher schnell wieder aufzutanken, verdrückt Gisin nach dem Rennen einige Gummibärchen. Und verteilt diese grosszügig auch an ihre Konkurrentinnen. Eine Woche vor dem Weltcupfinal in Saalbach weht bereits ein Hauch von Kehraus-Stimmung durch den Zielraum. «Ich habe sie im Einkaufszentrum besorgt. Bei den Gummibärchen sind die Schweden wirklich spitze, es gibt ganze Regale voll mit verschiedenen Sorten. Die sauren mag ich am liebsten.»
Auch zwei von Gisins Teamkolleginnen haben Grund zur Freude. Mélanie Meillard (Platz 13) humpelt wegen ihrer Knieprobleme zwar, auf der Piste zeigt sie aber ihre Klasse. Und Camille Rast (Platz 12) beweist, dass sie auch auf flachen Hängen, die ihr überhaupt nicht entgegenkommen, mithalten kann.