Es dauert noch knapp zwölf Wochen, bis mit den Gletscher-Riesenslaloms in Sölden (Ö) die nächste Weltcup-Saison lanciert wird. Trotzdem ist die Stimmung im Alpin-Zirkus bereits jetzt sehr angespannt.
Ausschlaggebend ist eine Regeländerung, welche die FIS offensichtlich für das Comeback von Marcel Hirscher vorgenommen hat. Athleten, die wie der Neo-Holländer in der Vergangenheit den Gesamtweltcup, den Disziplinen-Weltcup, WM- oder Olympia-Gold gewonnen haben, dürfen nach einer Wettkampf-Pause zwischen zwei und zehn Jahren bei der Rückkehr in den Weltcup eine Wildcard beanspruchen.
Was viele Athleten und Funktionäre besonders wütend macht, ist die Tatsache, dass diese Wildcard mit einem grossen Sprung in der Startliste verknüpft ist. Weil Hirscher seit seinem Rücktritt 2019 in der Riesen- und Slalom-Weltrangliste aus den Top-300 herausgespült wurde, müsste er gemäss der ursprünglichen FIS-Regel bei seinem Comeback mit einer Nummer in der Region von 60 starten. Aber nachdem dieses Reglement beim letzten Kongress des internationalen Ski-Verbandes überarbeitet wurde, wird der achtfache Gesamtweltcupsieger die Rennen im kommenden Winter mit der 31 in Angriff nehmen können.
Athleten und Trainer stehen auf die Barrikaden
«Das ist eine absolute Frechheit», tobt der Österreicher Christian Leitner (59), der als Trainer den Finnen Kalle Palander (47) zum Weltmeister geformt hat. Leitner, der heute in Kitzbühel eine Race Academy betreibt, legt nach: «Diese neue Regel ist eine Ohrfeige für jeden jungen Athleten, der sich den Platz im ersten Drittel der Startliste knallhart erkämpfen muss. Hirscher hat alles gewonnen. Der braucht keine Almosen, zumal er ständig betont, dass er nicht mit grossen sportlichen Ambitionen, sondern aus purer Freude in den Rennsport zurückkehren würde. Ich hätte damit leben können, wenn der grosse Altmeister Hirscher für ein einziges Rennen in den Genuss von dieser Sondergenehmigung gekommen wäre. Aber sicher nicht für eine ganze Saison.»
Deutliche Worte findet in dieser Angelegenheit auch der Walliser Justin Murisier, der im letzten Winter seine ersten Top-4-Ergebnisse in den Speed-Disziplinen eingefahren hat. «Persönlich mag ich Marcel Hirscher sehr gut und weil ich mich in den letzten Jahren vom Riesenslalom-Spezialisten immer mehr zum Abfahrts- und Super-G-Fahrer entwickelt habe, betrifft mich diese neue Regel nur am Rande. Ich ärgere mich trotzdem darüber», hält der 32-Jährige fest. «Die Vertreter vom internationalen Ski-Verband betonen ja immer wieder gerne, dass bei jeder Regel die Fairness im Mittelpunkt stehen muss. Deshalb werden ja auch die Pisten vereist, damit bei den Rennen möglichst viele Fahrer identische Bedingungen vorfinden. Aber für Marcel Hirscher wird jetzt eine Regel verändert, die definitiv nicht fair ist», poltert Murisier.
«Die FIS sagt nicht die Wahrheit»
Wütend macht die Athleten in dieser Angelegenheit auch die Kommunikation der FIS. Gemäss einem offiziellen Communiqué sei diese Regeländerung mit den Athleten abgesprochen worden. Unser Slalom-Held Daniel Yule (31, 7 Weltcupsiege) macht aber deutlich, «dass mit mir diesbezüglich vor dem FIS-Kongress niemand gesprochen hat. Und wenn ich gefragt worden wäre, hätte ich eher nein zu dieser Wildcard für Altmeister gesagt, obwohl ein Marcel Hirscher unumstritten ein Mehrwert für unseren Sport darstellt.»
Griechenlands Slalom-Vize-Weltmeister AJ Ginnis (29) schüttelt ebenfalls den Kopf: «Wenn die FIS sagt, dass das mit den Athleten abgesprochen wurde, ist das nicht die Wahrheit. In der Whatsapp-Gruppe, welcher sämtliche Technik-Spezialisten im Weltcup angehören, wusste keiner Bescheid. Das erinnert mich ans letzte Jahr, als die FIS die Team-Kombination einführen wollte. Auch damals hat der Weltverband verlauten lassen, dass man mit den Athleten gesprochen hätte, obwohl das in Wahrheit nicht passiert ist.» Für Yule und Ginnis steht fest, dass mit der Wildcard für Hirscher neben der Fairness auch ein sehr spannendes Zusatzelement gekillt wird: «Es wäre für alle Beobachter sehr interessant gewesen zu sehen, wie sich ein so grosser Champion wie Hirscher mit einer hohen Nummer auf einer entsprechend ramponierten Piste schlägt. Aber dazu wird es nun nicht kommen.»
Swiss Ski-Boss verteidigt die neue Regel
Dennoch findet man bei Swiss Ski auch einen Hochkaräter, der Verständnis für die Sonderbehandlung für Hirscher hat – die Rede ist von Swiss Ski-Präsident Urs Lehmann (55). «Rein sportlich betrachtet kann ich zwar nachvollziehen, dass die Athleten wegen dieser Entscheidung die Stirn runzeln. Wirtschaftlich gesehen stellt die Wildcard für Hirscher aber für alle Rennfahrer eine Chance dar. Ich bin mir sicher, dass weltweit einige Millionen mehr den Fernseher einschalten werden, wenn ein so grosser Champion wie Hirscher in Sölden sein Comeback geben wird. Und mit besseren TV-Einschaltquoten steigt der Marktwert von sämtlichen Startern.» Justin Murisier bleibt skeptisch: «Ich glaube nicht, dass ich mehr Geld verdienen werde, wenn Marcel Hirscher anstatt mit der Nummer 55 mit der 31 starten wird.»