Wenn der schweigsame und medienscheue Ingemar Stenmark öffentlich ein Kompliment auspackt, muss etwas Aussergewöhnliches passiert sein.
Der 16. Februar 2019 beinhaltet einen der raren stenmarkschen Verbal-Knaller. Es ist der Tag, nach dem der damals 21-jährige Marco Odermatt in Are (Sd) bei seinem ersten WM-Riesenslalom den zehnten Rang eingefahren hat. «Mir imponiert dieser junge Schweizer. Wenn Odermatt gesund bleibt, wird er eine grossartige Karriere machen», sagte Schwedens Alpin-König Ingemar Stenmark (67) beim Frühstück mit Bernhard Russi und dem Blick-Team.
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Fast fünf Jahre später fährt dieser Odermatt (26) tatsächlich derart stark, dass er sogar dem Riesen-Rekord vom Jahrhundert-Athleten Stenmark immer näher kommt. In Alta Badia (It) verbucht der Nidwaldner im dritten Riesenslalom dieser Saison den dritten Sieg. Saisonübergreifend ist es für den amtierenden Weltmeister und Olympiasieger der sechste Vollerfolg en suite. Stenmarks Rekord liegt bei 14 Riesen-Siegen in Folge. Während Odermatt am Sonntag knapp zwei Zehntel vor dem Kroaten Filip Zubcic (30) triumphierte, knöpft er 24 Stunden später dem zweitplatzierten Österreicher Marco Schwarz (25) 1,05 Sekunden ab.
Die Gemeinsamkeiten mit Stenmark
Damit hat der 26-Jährige bei seinen letzten 22 Riesenslalom-Starts (inklusive Olympia und WM) ausnahmslos den Sprung auf das Podest geschafft. Stenmark hat in dieser Sparte 37 «Stockerl»-Plätze in Serie realisiert. «Marco und Ingemar haben noch viel mehr gemeinsam als die gigantischen Erfolgsserien», sagt der fünffache Gesamtweltcupsieger Marc Girardelli (60), der sich in den 80er-Jahren viele packende Duelle mit dem Edeltechniker aus Tärnaby geliefert hat.
«Körperlich war der Stenmark von damals mit dem Odermatt von heute nahezu identisch. Und wenn ich mir das Video anschaue, in dem der 12-jährige Odi in nahezu perfekter Manier einen schwierigen Geschicklichkeit-Parcours gemeistert hat, denke ich an die Zeiten zurück, in denen Stenmark in den Trockentrainings im Stil eines Zirkus-Artisten über ein schlaffes Seil balanciert ist», ergänzt Girardelli.
Weltmeister zieht Vergleiche
Auch der ehemalige Slalom-Weltmeister Frank Wörndl (64, De) wird durch Odermatt immer wieder an den grossen Ski-Wikinger erinnert. «Es hat ja zuletzt immer wieder gegnerische Trainer gegeben, die Odermatt mit einer besonders drehenden Kurssetzung besiegen wollten. Dasselbe haben vor allem die Österreicher im Kampf gegen Stenmark versucht. Aber solche Versuche sind damals genauso kläglich gescheitert, wie die jüngsten Mätzchen gegen Marco.»
Wörndl liefert ein Beispiel: «1979 haben es die gegnerischen Teamführer fertiggebracht, dass der Weltcup-Riesenslalom in Jasna von einem ziemlich steilen auf einen sehr viel flacheren Hang verlegt wird. Sie waren sich sicher, dass sie Stenmark auf diese Weise stoppen können. Aber das Gegenteil ist eingetroffen, Ingemar hat das Rennen mit dem Rekord-Vorsprung von 4,06 Sekunden gewonnen!»
Odermatt ist redefreudiger
Marc Girardelli spricht dann aber doch noch ein Punkt an, in dem Odermatt und Stenmark himmelweit auseinanderliegen: «Im Gegensatz zu Marco hat Ingemar wirklich kaum geredet!» Wie sparsam der dreifache Gesamtweltcupsieger mit Wörtern umgegangen ist, belegt eine Anekdote der österreichischen Reporter-Legende Wolfgang Winnheim (77): «Anlässlich eines Weltcuprennens in den 70er-Jahren auf der Tschentenalp in Adelboden wollte es der Zufall, dass ich mit Ingemar auf dem Bügel-Skilift gelandet bin. Ich habe innerlich triumphiert, weil ich die ganz grosse Story gewittert habe.»
Doch Winnheim wurde bitter enttäuscht: «Ich habe eine Viertelstunde mit Ingemar auf dem Lift verbracht und in dieser Zeit alle Fragen gestellt, die mir schon lange unter den Nägeln gebrannt haben. Leider habe ich von ihm nur zwei Antworten erhalten: ‹Es war ein tolles Rennen› und ‹Die Piste war sehr gut›. Das wars. Aber die schwedischen Journalisten haben mir danach versichert, dass ich verhältnismässig viel aus ihrem Superstar herausgeholt hätte. Im Gespräch mit ihnen hätte er immer nur Ja oder Nein gesagt.»
Odermatt-Gespräch mit Stenmark
Marco Odermatt hat sich bis anhin ein einziges Mal mit dem Altmeister aus dem hohen Norden unterhalten. «Ein gemeinsamer Bekannter hat uns über Facetime miteinander verbunden. Allzu lange hat unser Gespräch aber auch nicht gedauert.»
Noch länger dauern wird es, bis der Buochser bezüglich Weltcup-Einzelsiegen in die Region von Stenmarks Bestmarke von 86 kommen wird. Der amtierende Gesamtweltcupsieger hat jetzt 27 auf dem Konto. Damit hat Odermatt aber bereits Österreichs Abfahrts-Kaiser Franz Klammer (70, 25 Abfahrts-Triumphe, 1 Kombinations-Sieg) überholt.