Am 6. Dezember weinte Daniel Yule. Sein Kumpel Justin Murisier hat sich an diesem Tag bei der Abfahrt in Beaver Creek den ersten Weltcupsieg erkämpft. «Niemand kann genau nachvollziehen, wie viel Leid Justin nach seinen drei Kreuzbandrissen ertragen musste. Aber weil ich schon so viel Zeit mit ihm verbracht habe, habe ich zumindest eine kleine Ahnung, was er alles durchmachen musste. Darum wurde ich nach seinem Triumph auf der Birds of Prey von meinen Emotionen überwältigt.»
Richtig emotional dürfte für die beiden Unterwalliser auch die erste Männer-Team-Kombination bei einer WM werden – Speed-Spezialist Murisier und Slalom-Ass Yule (7 Weltcupsiege) bilden bei dieser Premiere eines von vier Schweizer-Duos.
«Justin ist im Val des Bagnes aufgewachsen, ich bin im benachbarten Val Ferret gross geworden. Deshalb sind wir uns bereits in der Kindheit begegnet. Wir haben schon mehrmals zusammen den Urlaub verbracht und seit ein paar Jahren vergiessen wir in der Saisonvorbereitung in unserem Kraftraum in Orsiers gemeinsam jede Menge Schweiss. Dass wir nun gemeinsam ein WM-Rennen bestreiten können, ist absolut grossartig.»
Durch den Velo-Frust vereint
Die Basis für ihre Freundschaft haben die beiden aber nicht in ihrer Heimat, sondern in Spanien gelegt. «Wir waren auf Mallorca in einem Trainingslager mit Swiss Ski. Wir hatten beide wenig Freude an den langen Velotouren», schmunzelt Yule. Murisier legt nach: «Am letzten Abend haben wir dann unseren Velofrust mit mehr als nur einem Bier heruntergespült. Deshalb musste mich Daniel auf dem Heimweg stützen …»
In einer anderen durchzechten Nacht hat sich Justin als unverzichtbare Stütze für Daniel entpuppt. «Das war 2017 nach dem Weltcup-Finale in Aspen», erinnert sich Yule. «Nach der Saisonabschlussfeier in Denver war ich so besoffen, dass ich nach der Rückkehr ins Hotel mein Zimmer nicht mehr fand. Ich habe an der Rezeption nach Hilfe gesucht. Aber weil ich in meinem Vollrausch meine englische Muttersprache verlernt hatte, konnte ich den Leuten nicht erklären, was mein Problem ist. Zum Glück kehrte in diesem Moment Justin ins Hotel zurück. Er brachte mich dann zu meinem Zimmer.»
Schmerzvolle Tage
Einen aufsehenerregenden Auftritt hatten Daniel und Justin im Frühling 2022 anlässlich eines Plausch-Skirennen, bei dem die beiden als Dragqueens verkleidet am Start auftauchten. Murisier verdreht die Augen, wenn er daran zurückdenkt: «Wegen der schweren Brust-Implantate hatte ich nach diesem Slalom ziemlich starke Rückenschmerzen».
Weil die zahlreichen Verletzungen zu starken Abnützungen im Knie geführt haben, gibt es nur wenige Tage, an denen der gelernte Forstwart auf der Skipiste ohne Beschwerden zu Werke gehen kann. Dass er sich dennoch konstant in den Top-10 klassiert, ist einzig auf Murisiers heroischen Kampfgeist zurückzuführen.
Yule will alles dafür tun, dass sein Freund heute für seine überragenden Nehmerqualitäten belohnt wird. «Normalerweise ist die als Skirennfahrer eine Einzelmedaille wichtiger als Edelmetall im Team. Aber wenn ich zwischen Bronze im Slalom und Gold in der Team-Kombi mit Justin entscheiden müsste, würde ich mich für Letzteres entscheiden.»
Würde diese Männerfreundschaft nicht darunter leiden, wenn Yule nach einer starken Abfahrts-Vorlage von Murisier im Slalom kurz vor dem Ziel ausscheiden würde? «Wenn Justin sieht, dass ich bis zum Ausfall Vollgas gegeben habe, hätte er bestimmt kein Problem damit.»