Der Zuspruch, den wir von unseren Erzrivalen vor der Abfahrt auf ihrer Streif erhalten, ist fast schon unheimlich. Das ORF-Fernsehen lanciert vor dem Rennstart folgende Umfrage: «Gewinnen die Schweizer in Kitzbühel die fünfte Abfahrt in Folge?» 88 Prozent der Österreicher beantworten diese Frage mit «Ja».
Und wenige Sekunden, bevor Marco Odermatt (27) mit der Nummer 8 ins Rennen geht, leidet ORF-Kommentator mit diesem «so sympathischen Schweizer» hörbar mit: «Alles Gute, Marco Odermatt – jetzt geht es um die Erfüllung eines Bubentraums». Der amtierende Weltmeister aus dem Kanton Nidwalden wartet danach mit einer guten Fahrt auf. Aber sie ist nicht gut genug, um erstmals die Hahnenkamm-Abfahrt zu gewinnen. Der dreifache Gesamtweltcupsieger verliert auf die Bestzeit eine halbe Sekunde und muss sich am Tag nach seinem glorreichen Super-G-Triumph mit dem sechsten Rang begnügen.
Feuz erklärt den Odermatt-Dämpfer
«Irgendwie war ich diesmal nicht bereit, das volle Risiko einzugehen», sagt Odermatt. Der dreifache Hahnenkamm-Sieger Beat Feuz (37) liefert eine mögliche Erklärung: «Zwischen Marco und den Ski hat die Harmonie gefehlt, die seine Ski haben immer wieder «gerattert». Und wenn du in Kitzbühel im Super-G gewinnst, kostet das im Hinblick auf die Abfahrt enorm viel Substanz. Marco ist am Freitag nach Siegerehrung und Dopingkontrolle erst um 15.30 Uhr ohne Mittagessen im Magen ins Hotel zurückgekehrt, um 18.00 musste er schon wieder zur Siegerehrung mit anschliessendem Besuch im TV-Studio vom ORF. Es dauerte bis 19.30 Uhr, ehe er endlich im Teamhotel zu Abendessen konnte. Somit ist es verständlich, dass er die ultimative Spannung für die Abfahrt nicht mehr aufbringen konnte.»
Feuz weiss genau, wovon er spricht: «2017 habe ich genau dasselbe erlebt, nachdem ich mit dem dritten Rang meinen einzigen Podestplatz im Kitzbühel Super-G realisiert habe. Am Tag danach bin ich in der Abfahrt ausgeschieden, obwohl ich damals in der Form meines Lebens war.»
Shootingstar Monney hätte fast aufgegeben: «Ich hatte die Freude am Skisport verloren!»
Obwohl der Teamleader im Super-G offensichtlich zu viel Substanz verloren hat, deutet lange alles darauf hin, dass die Schweizer tatsächlich die fünfte Weltcup-Abfahrt in Folge gewinnen – Bormio-Triumphator Alexis Monney liegt lange in Führung. Teamkollege Justin Murisier (32) küsst dem Freiburger im Ziel bereits die Füsse – ehe Kanadas James Crawford (27) der Freude im Swiss-Ski-Lager einen Dämpfer verpasst. Der amtierende Super-G-Weltmeister fährt mit der Startnummer 20 um lumpige acht Hundertstel schneller als Monney und feiert seinen ersten Weltcupsieg.
«Wenn du nach der ersten Startgruppe in Führung liegst, beginnst du logischerweise an den Sieg zu denken», betont Monney. Der 25-Jährige, der im Kraft- und Konditionsbereich von Ex-Fussball-Nationalspieler Stéphane Grichting betreut wird, erholt sich aber schnell vom Crawford-Schock: «Auch der zweite Rang ist für mich ein sehr grosser Erfolg.»
Auch deshalb, weil die Rennfahrer-Karriere des Sohnes von Louis Monney (Ex-Trainer von Didier Cuche und Didier Defago) vor sechs Jahren auf der Kippe stand. «Als ich 19 war, habe ich kurzfristig die Freude am Skisport verloren und mir ernsthaft überlegt, ob ich damit aufhören soll», gibt Alexis zu. Swiss Ski-CEO Walter Reusser kann sich genau an diese Zeit erinnern: «Alexis wusste damals nicht so recht, ob seine Stärken eher im Speed- oder im technischen Bereich liegen. Zudem war er frustriert, weil Jahrgänger wie der Bündner Fadri Janutin oder der Luzerner Joel Lütolf zu diesem Zeitpunkt schneller vorwärtsgekommen sind, als er.»
Hahnenkamm-Startnummer von Tobias Grünenfelder als Triebfeder
Doch ein Jahr später wurde Monney in Norwegen Junioren-Weltmeister in der Abfahrt. Und seitdem geht es in der Laufbahn des Speed-Spezialisten steil bergauf. Nach seinem dritten Weltcup-Podestplatz innerhalb drei Wochen verrät Monney, warum Kitzbühel schon in seiner Kindheit eine ganz besondere Rolle gespielt hat. «Als ich ein elfjähriger Bub war, hat mir Tobias Grünenfelder, der wie Cuche und Defago von meinem Papa trainiert wurde, eine Hahnenkamm-Startnummer mit der 19 geschenkt. Ich habe diese Nummer in meinem Kinderzimmer aufgehängt. Und jedes Mal, wenn ich sie angeschaut habe, ist in mir der Wunsch gewachsen, dass ich eines Tages selber bei diesem Rennen starten kann.»
Das Positive an dieser «Niederlage»
Swiss Ski-Boss Walter Reusser ist am Ende dieses Tages übrigens nicht unglücklich, dass zum ersten Mal in diesem Abfahrts-Winter kein Schweizer auf dem obersten Treppchen des Podests steht: «Natürlich war es wunderschön, dass wir in den ersten vier Abfahrten Doppelsiege verbuchen konnten. Aber wenn man derart oft gewinnt, besteht die Gefahr, dass Siege irgendwann zur Selbstverständlichkeit werden. Deshalb ist es gar nicht schlecht, dass uns James Crawford in Kitzbühel aufgezeigt hat, dass Siege eben doch keine Selbstverständlichkeit sind. Zudem regt das unseren Hunger auf eine Revanche bei der WM-Abfahrt an ...»