Lienz zählt nur 11’900 Einwohner, lockt aber beim Slalom 5100 Zuschauer an. Dazu kommt eine hohe Dunkelziffer – Hunderte stehen rechts und links des Zielstadions an den beiden Tankstellen und blicken aufs weisse Schneeband. «Wir sind der Weltcup der kurzen Wege», sagt man mir im Dorf. Tatsächlich braucht man zu Fuss vom Stadtzentrum nur 15 Minuten bis in den Zielraum am Schlossberg.
Ebenfalls einen schnellen Weg ins Ziel findet Michelle Gisin. Die 30-Jährige wird Dritte – es ist ihr erster Podestplatz seit dem Markenwechsel zu Salomon vor gut einem Jahr. «Es war ein weiter Weg bis hierher, aber wir haben hart gearbeitet und es hat sich gelohnt», sagt sie.
3 Slaloms, 3 Mal Dritte
Tatsächlich verirrte sich Gisin im letzten Winter oft im Stangenwald. Obendrauf wechselte sie im Sommer in die Speed-Gruppe und trainierte kaum noch Slalom. «Vielleicht hat Michelle genau das befreit», sagt Davide Simoncelli. Der ehemalige Riesenslalomfahrer ist für sie bei Salomon ein wichtiger Ansprechpartner.
Dennoch: Dass Gisin in Lienz so auftrumpft, überrascht. Oder doch nicht? 2019 schaffte sie es hier erstmals überhaupt auf ein Slalom-Podest, 2021 klappte es trotz Pfeifferschen Drüsenfiebers ebenfalls. Und nun erneut. Drei Slaloms, dreimal Dritte. Zur Erinnerung: Lienz taucht nur alle zwei Jahre im Ski-Kalender auf. «Im Riesenslalom läuft es mir hier nie, im Slalom aber fast immer. Ja, das ist Liebe.»
Eltern erstmals vor Ort
Nach dem ersten Lauf ist Gisin als Vierte in Lauerstellung. Sie weiss, dass mehr möglich ist. Doch schon beim dritten Tor bleibt sie hängen! «Ich dachte schon: Das wars! Aber ich habe weitergekämpft und es hat sich gelohnt.»
Mit dem ersten Podestplatz seit fast zwei Jahren macht sich Gisin vor den Augen ihrer Eltern Bea und Beat ein verspätetes Weihnachtsgeschenk. «Sie waren in der Altjahreswoche noch nie dabei, weil im Geschäft viel lief. Umso schöner, dass ich anständig gefahren bin.»
Shiffrin verteilt Watsche
Und sonst? Mikaela Shiffrin holt ihren 93. Weltcupsieg – nicht irgendwie, sondern mit 2,34 Sekunden Vorsprung. «Das ist eine Watsche. Aber Mikaela fuhr wieder einmal wie von einem anderen Stern, einfach in einer anderen Liga», so Gisin.
Stark ist auch der 9. Platz von Nicole Good – es ist ihr bestes Resultat überhaupt. Gut möglich, dass man noch viel von ihr hören wird. Dem Speaker in Lienz wäre es zu wünschen – er spricht ihren Nachnamen stets auf Englisch aus, also «gud». Die St. Gallerin: «Egal. Es ist mega cool, dass es so aufgegangen ist.»