Es ist am Nachmittag, am 14. August 2018, als ein ganz besonderer Anruf auf meinem Hosentelefon eingeht. Der Absender ist Remo Hunsperger, Sohn vom dreifachen Schwingerkönig Ruedi († 72). «Marcel, mein Vater wird am nächsten Samstag mithilfe von Exit sterben. Weil ihn die Zusammenarbeit mit dem Blick immer mit Zufriedenheit erfüllt hat, sollt ihr die Ersten sein, welche Vaters Tod vermelden.»
Das Drama basierte auf einer verunreinigten Spritze
Dieses Gespräch hat mich schier umgehauen. Ich durfte bis dahin einige Reportagen mit diesem besonders liebenswürdigen Giganten aus dem Berner Mittelland realisieren, der Hunsperger «Rüedu» ist mir dabei extrem ans Herz gewachsen.
Nachdem er mir erzählt hat, dass ihm ein Berner Medizinmann kurz nach der Jahrtausendwende eine verunreinigte Spritze in den Rücken gesetzt hat, die zu einer Blutvergiftung und heftigen Infekten führte, habe ich mit ihm mitgelitten, wie wenn er mein eigener Vater gewesen wäre. Darum war ich mir höchst unsicher, ob ich im Artikel über sein trauriges Ende die passenden Worte finden würde.
Ich habe mich deshalb als Erstes mit den Sonntagsblick-Blattmachern Erich Morger und Daniel Leu abgesprochen. «Wenn der grösste Schwinger aller Zeiten stirbt, werden wir das als Titel-Story mit fünf Seiten abhandeln. Und weil in unserer Redaktion den Hunsperger keiner besser kennt als du, solltest du auch diese Geschichte schreiben», meinte Leu.
Die letzte SMS
Letztendlich habe ich diesen Nachruf bereits einen Tag vor Hunspergers Ableben verfasst. Das hat mich derart aufgewühlt, dass ich an diesem Freitagabend zur Beruhigung mehr als ein Feierabend-Bier getrunken habe. Bevor ich mich kurz nach Mitternacht ins Bett legte, habe ich dem einstigen Überschwinger noch eine SMS geschrieben. Inhalt: «Lieber Rüedu, obwohl ich deinen Todeswunsch nachvollziehen kann, würde ich mir wünschen, dass du dir es doch noch einmal anders überlegst.»
Ich habe in dieser Nacht kaum geschlafen. Ich habe in diesen Stunden immer wieder an die Geschichten gedacht, die mir «Rüedu» von seiner einzigartigen Karriere erzählt hat. Besonders an den aussergewöhnlichen Beginn dieser königlichen Schwinger-Saga.
Ein untypischer Schwinger
Der einzige 3-fach König neben Hans Stucki (1900, 02, 05) und Jörg Abderhalden (1998, 2004 und 07) hat immer wieder betont, dass er lieber Boxer, Handballer oder Fussballer geworden wäre. Aber weil ihm die Eltern den Gang in den Box-Ring verboten haben und sein Körperbau zu mächtig für eine Karriere als Ballsportler war, ist das Riesen-Talent mit Baujahr 1946 irgendwann halt eben doch in die Zwilchhosen gestiegen.
Mit 18 wäre dem Automechaniker die mangelnde Verbundenheit zum Spiel der Sennen nach dem ersten ganz grossen Wurf schier zum Verhängnis geworden. «Ich habe völlig unerwartet auf dem Brünig triumphiert. Und weil ich ohne Kühermutz angereist bin, ging ich mit einem Leibchen mit Zebrastreifen zur Siegerehrung, was dem damaligen Obmann Ernst Marti natürlich überhaupt nicht gepasst hat!»
Der erzkonservative Marti weigerte sich anfänglich, dem bösen Burschen im Zebra-Look den Preis zu übergeben. «Nach einer längeren Diskussion ging die Zeremonie aber dann doch noch über die Bühne und ich habe ein Couvert mit 700 Franken erhalten», erzählte mir Hunsperger im Sommer 2016. Nach seinem dritten Eidgenössischen Sieg 1974 in Schwyz, erklärte Hunsperger seinen Rücktritt.
Der Schlussgang
Zum Leidwesen von gewissen Obmännern war er danach für diverse Medien als Schwing-Experte tätig. Seine Kommentare hatten oft die Wirkung einer Gerade eines Schwergewichtsboxers. Der König aller Schwingerkönige war in der Rolle als kritischer Beobachter auch für Blick und Sonntagsblick ein wichtiger Schlagzeilen-Lieferant.
Die dicken, schwarzen Lettern über seinen Tod hätte ich gerne um mindestens zwanzig Jahre nach hinten verschoben. Doch die erlösende Antwort auf meine SMS ist am 18. August 2018 ausgeblieben. Stattdessen hat sich an diesem Vormittag kurz nach 11 Uhr erneut Remo Hunsperger telefonisch bei mir gemeldet. «Vater ist um 10.45 gestorben. Bevor er seine Augen für immer geschlossen hat, sagte er zu uns, dass er sich sehr auf die Erlösung freue, und hat noch einmal herzlich gelacht.»
Deshalb kann auch ich wieder lachen, wenn ich an die Zeit mit King Ruedi zurückdenke.