Pirmin Reichmuth (27) ist in seinem Leben schon in einige Rollen geschlüpft. Metzger, Schwinger, Student, Unternehmer. Seit fünf Wochen erfüllt er eine neue Aufgabe. Anfang Mai hat seine Frau Marion ein gesundes Töchterchen zur Welt gebracht. Ein Erlebnis, das den eigenständigen Physiotherapeuten trotz vorbereitenden Kursen regelrecht aus der Bahn geworfen hat: «Ich bin ja wirklich ein bodenständiger Typ, so schnell bringt mich nichts aus der Ruhe. Aber dort haben mich die Emotionen richtig durchgeschüttelt.»
Offenbar sehr zur Freude des Personals auf der Geburtenabteilung, erzählt der Fast-zwei-Meter-Mann. Die Hebammen mussten ab dem Schwinger im Geburtssaal schmunzeln: «Neben mir erscheint ja eigentlich alles klein. Aber wenn ich dann so ein winziges Baby im Arm halte, sieht das wahrscheinlich schon herzig aus.» Aus dem 130-Kilo-Koloss wurde ein sanfter Riese. Am Anfang habe er sich fast nicht getraut, sein Töchterchen hochzuheben. «Zerbrechlich wie aus Glas» sei das Baby ihm am ersten Tag vorgekommen. Die Angst, etwas kaputtzumachen, sei zum Glück schnell verflogen.
Ein hilfloser Zuschauer
Die Emotionen hingegen, die bleiben. Noch nie habe etwas solche Gefühle bei ihm ausgelöst, erzählt Reichmuth. «Im Sport wirds manchmal auch wahnsinnig emotional. Wenn du am Eidgenössischen vor 50’000 Zuschauern schwingst, ist das auch ein unbeschreibliches Gefühl. Aber das ist eine ganz andere Ebene.» Und: Im Sport hat der Eidgenosse alles selbst im Griff. Im Kreisssaal hingegen fühlte er sich schlichtweg hilflos. «Als Mann bleibt dir wirklich nicht viel mehr übrig, als die Hand deiner Frau zu halten und ihr gut zuzureden. Du bist echt ausgeliefert und hoffst einfach, dass alles klappt.» Der gelernte Metzger nimmts humorvoll: «Immerhin konnte ich so auch nicht viel falsch machen.»
Dieses Gefühlschaos hat beim Innerschweizer noch eine Weile angehalten. Am Zuger Kantonalen, eine Woche nach der Geburt, sei er mit dem Kopf überhaupt nicht bei der Sache gewesen. Er habe auf Sparflamme geschwungen. «Ehrlich gesagt, war es mir einfach auch ein bisschen egal. Da gab es wirklich Wichtigeres als Schwingen.» Eine Woche später musste «Piri» das Luzerner Kantonalschwingfest sausen lassen. Der Jungunternehmer lag mit einer Grippe im Bett.
«Es darf sich nicht alles ums Baby drehen»
Mit einer solchen Zwangspause hatte der Brünig-Sieger von 2019 schon gerechnet: «Im Frühling eröffnete ich mit einer Kollegin die eigene Physiopraxis. Dann folgte die Geburt unserer Tochter. Es war wirklich eine intensive Zeit. Ich fragte mich schon, wie lange das gut geht.» Muss sich der Schwing-Zirkus nun Sorgen machen, dass Reichmuth die Zwilchhose an den Nagel hängt, nun da er im Privatleben so viel um die Ohren hat?
Reichmuth kann beruhigen. Die Kleine sei natürlich das Wichtigste für «Dädi Piri», wie man in der Innerschweiz sagt, und seine Frau Marion. Aber ihre Welt drehe sich noch um ganz viele andere Sachen – wie eben ums Schwingen. Dass der Innerschweizer Hüne auch mit Kind Spitzensport betreiben will, war von Anfang an klar. Möglich mache das vor allem seine Frau. Denn sie sei es, die in der Nacht aufstehe, damit er genug Schlaf kriegt und sich tagsüber um Job und Training kümmern kann. Wäre das nicht möglich gewesen, hätte die Familienplanung warten müssen.
Das Kribbeln ist zurück
Nun aber läuft das Training unverändert weiter. Der Ehrgeiz ist zurück. Genauso wie das Kribbeln in den Fingern, die Lust auf den Wettkampf am Sonntag. Am Ob- und Nidwaldner Kantonalen will Reichmuth nach seiner vierwöchigen Wettkampfpause wieder den Tritt finden: «Ich weiss, es ist eine furchtbare Floskel. Aber ich nehme am Sonntag einfach einen Gang nach dem anderen. Ich will nichts überstürzen oder erzwingen.» Nach vier Kreuzbandrissen und insgesamt fünf verpassten Saisons ist es Reichmuths oberstes Credo, fürs Unspunnen-Schwinget Ende Sommer gesund zu sein. Schafft er das, wird «Dädi Piri» nur schwer zu stoppen sein.