Dagon war der erste Schweizer Schwimmer mit einer Olympia-Medaille
«Erinnere mich an jeden Meter dieses Rennens»

Im Wasser ist er von jeher in seinem Element. Der erste Schweizer Schwimmer mit einer Olympia-Medaille hat aber auch an Land viel zu tun. Als frischgebackener Ruheständler ist der Seeländer seit vier Monaten Hausmann.
Publiziert: 17.08.2024 um 19:44 Uhr
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Auf dem Stand-up-Paddle im Neuenburgersee ist der einstige Schwimmstar in den Sommermonaten oft anzutreffen.
Foto: Thomas Meier
Thomas Wälti und Thomas Meier, GlücksPost
Glückspost

Am öffentlichen Strand von Cheyres-Châbles FR steigt Étienne Dagon (63) auf sein Stand-up-Paddle. Geräuschlos gleitet er auf dem Board über das türkisfarbene Wasser des Neuenburgersees. Eine neugierige Entenmutter will bei unserem Fotoshooting als Zaungast dabei sein und mit ihren fünf Küken ins Bild paddeln. Das Naturschutzgebiet La Sarcelle ist ein Paradies für Wasservögel – «und mein Kraftort vor der Haustür», sagt der Bieler.

Étienne Dagon gewann 1984 in Los Angeles als erster Schweizer Schwimmer eine Olympiamedaille: Bronze über 200 Meter Brust. Erst an den Sommerspielen 2021 in Tokio respektive in Paris 2024 haben Jérémy Desplanches über 200 Meter Lagen, Noè Ponti über 100 Meter Schmetterling und zuletzt Roman Mityukov über 200 Meter Rücken das gleiche Kunststück wie Étienne Dagon fertiggebracht: Olympia-Bronze. «Ich mag es den drei Jungs gönnen», sagt der Vorreiter im Schweizer Schwimmsport. Um mit einem Schmunzeln anzufügen: «Nun bin ich halt nicht mehr der einzige Schweizer Schwimmer mit olympischem Edelmetall – aber ich bleibe der erste!»

Wettkampftyp schlummert in ihm

Am Ufer erzählt Étienne Dagon, dass er zwei- bis dreimal pro Woche eine zweistündige Trainingseinheit auf dem Brett absolviere. Er paddelt dann bis zum nächsten Dorf Yvonand VD und wieder zurück. Der Kurs führt ihn durch das Naturschutzgebiet Grande Cariçaie, das von einer weiten Bucht mit flachem Wasser und breiten Schilfgürteln geprägt ist: «Unterwegs kann man Wasservögel, quakende Frösche und Haubentaucher beobachten und wunderbar abschalten.»

Platsch! Der immer noch topfit wirkende Étienne Dagon springt kopfüber in den See. «Schwimmen Sie mal im Bruststil zu mir», fordert er den Autor dieser Zeilen auf. Zu einem Wettkampf kommt es nicht – wer will schon freiwillig gegen die ehemalige Nummer 2 der Welt (1987, 200 Meter Brust) und den einstigen Europarekordhalter antreten? «Für meine lädierte Schulter ist es sowieso besser, wenn wir keinen Wettkampf bestreiten. Die Belastung wäre zu gross», sagt der Seeländer lachend. Er sei nach wie vor der ehrgeizige Wettkampftyp. Als in den olympischen Schwimm-Finals unter den acht Athleten Gold, Silber und Bronze verteilt wurden, fieberte er zu Hause vor dem Fernseher mit. «Am liebsten wäre ich auf Bahn 9 mitgeschwommen!»

Kein Brust-Training mehr

Aus gesundheitlichen Gründen hat der gelernte Mikromechaniker und langjährige Profischwimmer (1981 bis 1988, Jahresbudget 100'000 Franken) aufgehört, im See Brustschwimmen zu trainieren. «Ich kenne mich: Erst würde ich einen Kilometer abspulen, dann zwei, drei und am Schluss fünf. Unterwegs kämen mir Gedanken, wie cool es doch wäre, an einer Masters-Schweizer-Meisterschaft oder gar an einer Masters-EM teilzunehmen.»

Étienne Dagon macht im Neuenburgersee ein paar lockere Brustzüge, dann steigt er aus dem Wasser. Möchte er seine grosse Erfahrung nicht dereinst als Trainer weitergeben? «Ich habe mir zwar schon Gedanken gemacht, mich in den Schwimmsport einzubringen und ihm etwas zurückzugeben. Aber konkret ist da noch nichts gelaufen», sagt Dagon.

Über das Rennen seines Lebens, über diese 2:17,41 Minuten im Olympiabecken von Los Angeles, kann Étienne Dagon auch 40 Jahre später so fesselnd erzählen, als hätte es gerade stattgefunden: «Ich erinnere mich an jeden Meter dieses Rennens, weiss noch genau, welche Gedanken mir wann durch den Kopf geschossen sind.» Die Siegerehrung sei überwältigend gewesen. Und ja: Die Olympia-Medaille habe bei ihm zu Hause einen Ehrenplatz bekommen.

Im Rausch der Tiefe

Was Étienne Dagon heutzutage im See auch macht: Er taucht einfach ab. Tiefenentspannt. «Unter Wasser spüre ich eine innere Ruhe und Gelassenheit. Ich erlebe dann eine Vollkommenheit, wie man sie vom Yoga her kennt», sagt der 40-fache Schweizer Meister und Sportler des Jahres 1984. Es kann daher nicht erstaunen, dass der Spielfilm «Im Rausch der Tiefe» zu seinen Lieblingsstreifen zählt.

Étienne Dagon stellt sein Stand-up-Paddle in die selbstbedienbare Garage am Strand zurück. Drei Autominuten später öffnet er die Tür zur lichtdurchfluteten 5,5-Zimmer-Mietwohnung mit freier Sicht auf den Neuenburgersee. Seit vier Monaten wohnt er mit seiner Freundin Marie Frutiger (61) in Cheyres-Châbles. Étienne Dagon ist frischgebackener Ruheständler. «Hausmann», wie er sagt. Ende März 2024 ist er in Pension gegangen. Nach seinem Rücktritt als Schwimmprofi 1988 arbeitete er in der Uhrenindustrie. Von 1996 bis 2008 war er unter dem späteren Bundesrat Didier Burkhalter Leiter des Sportamts der Stadt Neuenburg. Nach einem Abstecher in den Fitnessbereich fungierte der ehemalige Bieler Stadtrat neun Jahre lang als Sportdelegierter der Stadt Biel und Leiter der Dienststelle Sport. Er ist geschieden und Vater von drei Kindern: Maël (30), Jérémy (28) und Amélie (16).

Frau im Internet kennengelernt

«Seit ich pensioniert bin, habe ich Zeit gewonnen. Das ist Luxus pur, nicht wahr, Marie?», stellt Étienne Dagon mit fragendem Blick fest. Marie Frutiger, Verwaltungsleiterin der Spitex Freiburg, antwortet schlagfertig: «Während Olympia sah ich dich ja weniger als vorher. Ständig warst du als Experte bei Fernsehstationen oder Medienvertretern eingeladen.» Dagon schenkt seiner Partnerin einen verliebten Blick. Er und die Neuenburgerin aus La Chaux-de-Fonds haben sich vor fünf Jahren über eine Online-Partnervermittlung kennengelernt. «Am 5. August 2019», präzisiert Dagon. Warum er das so genau weiss? «Weil an diesem Tag meine ganz persönlichen Olympischen Spiele mit Marie begonnen haben!»

Einen gemeinsamen freien Tag nutzt das Paar, um zu wandern, die Natur zu entdecken und zu reisen. «Wir möchten irgendeinmal unseren gemeinsamen Lebenstraum verwirklichen: eine Reise nach Tahiti», sagt Étienne Dagon. Und Marie Frutiger ergänzt: «Polynesien mit seinen lebensfreudigen Menschen, seinen Farben und den unendlichen Weiten des Meeres hat mich schon seit je fasziniert.»

Bis Tahiti in Sicht ist, bietet der Sandstrand von Cheyres-Châbles mit dem türkisfarbenen Wasser des Neuenburgersees aber eine echte Alternative.

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