Im Herbst 1996 ist die Rad-Welt fest in Schweizer Hand. In Lugano wird Alex Zülle Weltmeister im Einzelzeitfahren. Barbara Heeb holt Gold im Strassenrennen und Mauro Gianetti Silber. Zwei Wochen zuvor stellen Zülle (Sieger), Laurent Dufaux (Zweiter) und Tony Rominger (Dritter) das gesamte Vuelta-Podest. Historisch.
Bis heute belegte nie eine andere Nation als Spanien die Top 3 im Gesamtklassement der Spanienrundfahrt. Ausser eben die Schweiz. «Es war genial, mein grösster Triumph. Und dann stehen in Madrid zwei weitere Schweizer neben mir – so etwas wird es wohl nie mehr geben», so Zülle. Der Ostschweizer hat recht. Am Samstag starteten mit Stefan Küng (30) und Mauro Schmid (24) nur zwei Radgenossen zur Vuelta. Es sind andere Zeiten.
Wie Weihnachten und Ostern zusammen
Doch wie war der Dreifach-Triumph der Schweiz vor 28 Jahren überhaupt möglich? Ganz einfach: Es war eine einmalige Konstellation. Alle waren Leader in ihren Teams, in Form und heiss.
Zülle, das damals 27-jährige Talent aus der Ostschweiz, häufig Zweiter, aber mit der Klasse für grosse Siege. Rominger, mit 35 Jahren im Herbst seiner Karriere, aber immer noch herausragend, vor allem in Zeitfahren. Und schliesslich Dufaux, der Bergfloh aus der Romandie – wild, furchtlos und wie Zülle im besten Rennfahreralter. «Ich bin die Entdeckung der Saison», meinte Dufaux damals.
Das ungleiche Trio fährt in Spanien herausragend und sorgt bei den Einheimischen für Frust pur. Nachdem ihr grosses Idol, der fünffache Sieger Miguel Indurain, aufgibt, herrscht Katzenjammer, die Einschaltquoten brechen ein. Den Schweizern ist das egal.
«Chum a mis rad, Alex!»
Rominger verliert schon in der dritten Etappe mehr als sieben Minuten, weil er hinten im Feld fährt und einen harmlosen Angriff verpasst. Doch er macht weiter, gewinnt zwei Etappen. Und vor allem: Er rettet Zülle. Was war passiert?
Rückblick. Auf der 17. Etappe, hinauf ins Wintersportgebiet Cerler (1560 Meter über Meer), gehts dem Ostschweizer mies. Zülle bekommt kaum Luft und hat keine Helfer an der Seite. «Wir haben zwei Wochen lang Spaghetti Nature gegessen – nur mit Öl, Pfeffer und Parmesan. Aus Vorsicht. Dann stellte der Hotelier aber auf einmal eine grosse Pfanne mit Spaghetti Bolo auf den Tisch. Ich liess die Finger davon, alle anderen langten zu. Und mussten tags darauf im Rennen WC-Rollen im Begleitauto holen – sie waren fix und fertig.» Vielleicht war das Fleisch verdorben. Oder der Milchreis, den es zum Dessert gab – Zülle hasst Milchreis und verzichtete ebenfalls.
Probleme hat Zülle dennoch – nicht mit dem Magen, sondern mit der Atmung. Rominger erkennt dies, fährt zu ihm hin und ruft: «Chum a mis rad, Alex! Du chasch das!» Und das, obwohl sie in verschiedenen Teams fahren. Der Zuger Routinier macht das Tempo, Zülle rettet sein Trikot. «Ich hatte Hühnerhaut. Tony hat mir geholfen, das vergesse ich nie. Er war ein Freund und ist es bis heute.»
Zülle holt seinen grössten Sieg. «Am Abend gab es eine Party mit Tapas, die Familie war da. Es war unvergesslich.» Übrigens hält Zülle auch heute noch zwei Vuelta-Rekorde. Keiner trug so lange das Leadertrikot (48 Tage). Und mit sechs Zeitfahr-Siegen hat er, gemeinsam mit Rominger, die meisten Prüfungen gegen die Uhr gewonnen.
Hinweis: Dieser Artikel wurde im August 2023 bereits ein erstes Mal veröffentlicht.